Der Junge antwortete nicht. Arbogast fragte sich, ob der Junge ihre Sprache nicht verstehen konnte. Die Kuttenträger, so wusste er, kamen häufig von weit her. Sie zogen von Gehöft zu Gehöft und von Siedlung zu Siedlung, um von dem einen Gott zu erzählen, murmelten Beschwörungen in fremder Zunge und tauchten Menschen in Wasser, die dafür ein Leinenhemd bekamen. Manchmal hörten ihnen die Menschen zu, aber meistens lachte man über sie, verjagte oder erschlug sie, wenn die Mönche schlecht über ihre Vorfahren sprachen. Doch dieser Mann hier war ärmlich gekleidet und trug keine Leinenhemden bei sich. Ein hölzernes Kreuz hing an einer Lederschnur um seinen Hals, aus zwei Stöcken mit einer Schnur zusammengebunden. Er sah aus wie ein Knecht und nicht wie ein freier Mann.
Theodard nahm das am Boden liegende Brot auf, welches er mit seinen großen Händen in Stücke riss, hielt dem Jungen etwas hin. Arbogast beobachtete, wie sich der Junge langsam aufrichtete. Er war klein und drahtig, obwohl einen Kopf kleiner als Arbogast und nicht sehr kräftig. Dennoch hatte er Mut besessen, sich dem Räuber entgegenzustellen.
»Er ist schwachsinnig!«, sagte Rolant und sah das Kind abschätzig an.
Der Junge stand da und trat von einem Bein auf das andere.
»Halte dich fern von ihm!«, Theodard wies auf den Toten. »Bald werden die Wölfe kommen. Unser Feuer dort oben ist warm. Sei mein Gast, ich gewähre dir den Frieden.«
Langsam stapfte Theodard durch den Schnee, gefolgt von Rolant, der murmelnd den Kopf schüttelte. Arbogast folgte ihnen. Der Junge stand noch immer regungslos im Schneetreiben, das Brot in der Hand und den Toten zu seinen Füßen. In der Dämmerung wurde er schnell von den Schatten verschluckt.
»Ob die Männer wiederkommen?«, fragte Arbogast, während Rolant neue Äste in das knisternde Feuer legte. Die Pferde schnaubten leise.
»Dann sterben sie«, sagte Rolant.
Theodard sah nachdenklich zu den Fichten hinüber. Die Flammen zeichneten Schatten auf seine Züge. Arbogast musterte seinen Vater lange. »Was ist mit dem Jungen?«
»Er wird kommen«, sagte Theodard. »Es ist der Instinkt zu leben, der ihn herführen wird.«
Rolant brach einige weitere Äste. »Was machen wir dann mit ihm?«
Theodard zog die Brauen zusammen. »Wir nehmen ihn mit. Unser Gehöft ist die nächste Behausung.«
»Dann wird er also unser Gast?«
Am Rande des Lichtkreises war eine Bewegung wahrzunehmen. Die schmale Gestalt des Jungen trat langsam auf sie zu, den Beutel an den Bauch gedrückt und den Kopf gesenkt.
»Komm!«, rief Theodard, seine große Hand wies auf einen Platz am Feuer.
Die Schritte des Jungen knirschten im Schnee, die Augen funkelten unruhig in seinem ausdruckslosen Gesicht. Er blieb vor dem Feuer stehen, während er Theodard musterte. Niemand sagte ein Wort. Arbogast wunderte sich über die zögernde Art des Fremden, dem man das Gastrecht angeboten hatte. Kein Heiling würde das angebotene Gastrecht je brechen. Dann trat der Junge einen Schritt vor und ließ sich geräuschlos ihnen gegenüber nieder, um sie über die Flammen hinweg anzusehen.
Rauchnacht
Schwärme von Krähen zogen über das Land. Wie schwarze Punkte trieben sie vor dem grauen Himmel, ihre heiseren Rufe riss der Wind von den Schnäbeln. Schneeflocken wirbelten durch die eisige Luft. Das knorrige Holz der alten Bäume ächzte, die Wurzeln wie Knoten in das Erdreich gekrallt, die Stämme schwarz und feucht. Die Finsternis brachte die längste Nacht des Jahres.
Die Häuser des Gehöftes duckten sich hinter der Palisade aus grob gezimmerten Baumstämmen. Kein Licht brannte, niemand war zu sehen. Die Schatten des Waldes krochen zwischen den tiefen Dächern entlang, während die Menschen lauschend in ihren Hallen saßen. Die Felder außerhalb der schützenden Holzpalisade lagen verlassen da, begraben unter knietiefen Schneewehen.
Außer dem Herdfeuer brannte kein Licht in der großen Halle. Schatten sammelten sich unter den Dachbalken, wo der Rauch das Holz geschwärzt hatte. Der Wind heulte, drückte gegen die Palisade, so dass man ihr Knirschen noch in den Häusern hören konnte, und rüttelte an den Dächern. Der sie umgebende Wald war erfüllt von fremdartigen Geräuschen.
Sarhild, die gerade Brennholz nachlegte, hielt in ihrer Arbeit inne und lauschte. Ein Wimmern lag in der Luft. Der Wald war voller finsterer Wesen diese Nacht und sie hoffte, dass die Männer ihren Weg finden würden. Die dunklen Vögel schrien seit Einbruch der Dunkelheit und die Schweine und Schafe hinter der Trennwand bewegten sich unruhig. Das Mädchen konnte ihre Furcht spüren. Eckart saß schweigsam bei seinem Bier. Während der Zwölfnächte ruhte die Hausarbeit, das Spinnrad stand still wie das Rad der Zeit. »Auf dass die Sonne wieder aufgeht!«, flüsterte Sarhild und berührte ihren Donarhammer, einen kleinen Anhänger aus Eichenholz, den ihre Mutter geschnitzt hatte.
Eisiger Wind und Schneegestöber drangen in die Langhalle, als sich eine Gestalt durch den Eingang drückte. Obwohl Isbert nur den Hof überquert hatte, waren seine Haare und Schultern schneeüberzogen. Der Junge stapfte sich den Schnee von den Füßen, Eckart musterte ihn düster über den Becher hinweg.
»Die Vögel fallen tot vom Himmel!«, sagte Isbert und trat in den Schein des Herdfeuers vor, das in der Mitte der Halle brannte. Sarhild sah sein schulterlanges Haar rötlich aufleuchten, dieses besondere Haar, das sie noch bei keinem Menschen gesehen hatte. Es war nicht blond, wie bei seinem Vater Theodard, oder rot wie bei Arbogast, seinem älteren Bruder, sondern von einem bleichen Weiß wie Schnee im Licht der Wintersonne. Ein Haar, das keine Farbe zu besitzen schien, dachte sie, eine Laune der Götter. »Zwei toten Raben liegen im Hof, sie sind hart wie Stein.«
»Nur ein Narr verlässt sein Herdfeuer in dieser Nacht!«, brummte Eckart und trank einen weiteren Schluck. Ihr Vater würde bis zum Aufgang der Sonne kein Auge zutun, sie alle fürchteten diese zwölf Nächte. Ein Schatten huschte über das ebenmäßige Gesicht Isberts.
»Sie werden den Weg finden!«, sagte er und setzte sich neben Sarhild auf die Bank. Eine Zeitlang saßen sie nebeneinander und lauschten dem Heulen des Windes, dem Knirschen des Gebälks. Nur der Schein des Herdfeuers vertrieb Dunkelheit und Kälte, die aus den Wäldern zu ihnen gekrochen kamen und die Langhäuser umschlossen. Nur das Opfer an die Götter würde ihnen Schutz gewähren. Vor zwei Nächten hatten sie damit begonnen, Holz auf dem Hof aufzuschichten, damit das heilige Feuer in diesen Stunden angezündet werden konnte, dann waren Eis und Schnee gekommen und sie hatten den Holzstapel mit großen Tüchern abgedeckt.
Draußen schlugen die Hunde an. Ihr heiseres Bellen drang durch den Schneesturm.
»Sie sind zurück!«, rief Isbert und rannte zur Tür.
Sarhild warf sich das Schafsfell über und folgte ihm nach draußen. Eiskristalle schlugen ihr schmerzhaft ins Gesicht, hinter sich hörte sie Eckart fluchen. Obwohl Isbert kurz vor ihr ging, konnte sie ihn im nächtlichen Schneegestöber kaum erkennen. Sie zog das Fell dichter um ihre Schultern und kämpfte sich durch den kniehohen Schnee. Die anderen Langhäuser waren kaum mehr als ein Schemen. Die massige Gestalt Manfreds kam ihnen entgegen, die Arme ragten bloß aus der schlichten Tunika hervor. An dem verschlossenen Tor sprangen die Hunde hoch. Manfred stemmte den Eichenschaft des Speeres in den Schnee und kletterte den Wall hoch, um über die Palisade schauen zu können. Sarhild blinzelte gegen den Sturm an, die Schneeflocken stachen wie Nadeln und rissen die Haut wund. Als Manfred seinen Kopf über die Baumstammspitzen steckte, erwischte ihn der Eissturm mit voller Kraft. Sein kahler Schädel funkelte feucht, als er sich an die Palisade klammerte. Eckarts Fackel wurde vom Sturm gelöscht und ließ sie in der Dunkelheit zurück.
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