»Die Beschuldigung ist ausgesprochen«, sagte Rolant. »Der Junge soll reden.«
Theodard blickte den Schwarzhaarigen finster an. »Du hast gehört, was gegen dich vorgebracht wurde. Wenn du sprechen kannst, dann sprich jetzt!«
Der Junge schüttelte verzweifelt den Kopf und hob die Hände Theodard entgegen. »Ich … habe … nichts … getan«, sagte er stockend.
Rolant ging langsam um den Jungen herum. »So spricht er also doch. Hast du auch einen Namen?«
»Farold …«, sagte der Junge, »Ich heiße Farold.«
Rolant betrachtete den Jungen von allen Seiten, ob sich nicht Anzeichen finden ließen, dass er einen Mann mit seinem Blick vom Dach eines Hauses stürzen lassen konnte. Isbert hörte ein Geräusch vom Eingang und sah Sarhild, die mit dem Krug in der Hand dastand, die Knöchel traten weiß hervor. Theodard rührte sich nicht. Wenn er seinen Schutz von Farold abzog, darauf hoffte Isbert, würde man ihn richten. Entweder die Verbannung in die Wälder, die den Tod bedeutete, oder man ertränkte ihn im Sumpf und rammte seinen Körper mit Pfählen in den Boden, so dass er bei Nacht nicht das Gehöft aufsuchen konnte.
»Sprich, Farold«, sagte Theodard, »vermagst du einen Mann mit deinem Blick zum Stürzen zu bringen.«
Farold schüttelte langsam den Kopf, seine schmale Gestalt mit den hochgezogenen Schultern schien in sich zusammen zu sinken.
»Hast du Übles im Sinn gegen unsere Sippe und diese Halle?«
Erneut schüttelte der Junge den Kopf. »Du hast mich vor den Männern im Wald gerettet. Mich den Winter über an deinem Tische sitzen lassen.«
»Bist du ein Mensch aus Fleisch und Blut?«
Farold nickte. »Ich habe wirklich nichts getan. Ich stand am Speicher und beobachtete, wie ihr das Dach neu machtet.«
»Dann steht sein Wort gegen das von Eckart«, sagte Rolant. »Es kann nur dem einen Recht und dem anderen Unrecht gegeben werden, so will es das Sippengesetz. Theodard muss richten.«
Theodard blickte zu Eckart hinüber, der mit schweißglänzendem Gesicht auf der Bank bei dem Herdfeuer lag. Aleke krempelte sich gerade die Ärmel hoch. »Wir entscheiden, wenn Eckart wieder sprechen kann. Bis dahin bleibt Farold hier in der Halle, wo ihn alle sehen können.«
Isbert bemerkte, wie Farold erleichtert aufatmete. Der fremde Junge setzte sich auf die Bank und sah Aleke dabei zu, wie sie sich die Hände und Arme mit dem Fell eines Pferdes einrieb. Nach und nach verließen die Männer und Frauen das Langhaus, nur Aleke und Sarhild blieben zurück.
»Gib deinem Vater das Bier«, sagte Aleke zu ihrer Tochter. Sarhild setzte den Krug an die Lippen Eckarts, der geräuschvoll trank. Aleke streute etwas in die Räucherpfanne. Ein süßlicher Geruch verbreitete sich und stieg langsam zur Decke. Isbert fühlte sich schwindelig und hielt sich mit einer Hand an der Wand fest.
Aleke kniete sich neben ihren Mann und begann mit ruhiger, gleichmäßiger Stimme Verse aufzusagen, während ihre mit dem Tierfell eingeriebene Hand das Bein auf und niederglitt. Ihre Worte hallten leise in seinen Ohren wider.
»Vol und Woden fuhren zu Holze.
Da ward dem Rosse Balders der Fuß verrenket.
Da besprach ihn Sinthgunth und Sunna ihre Schwester;
Da besprach ihn Frija und Volla, ihre Schwester;
Da besprach ihn Woden, der sich wohl darauf verstand:
So die Beinverrenkung, so die Blutverrenkung,
So die Gliedverrenkung:
Knochen zu Knochen, Blut zu Blute,
Glied zu Gliedern, als ob geleimt sie seien!«
Sie sagte das Lied dreimal her, während sich der Raum vor Isberts Augen drehte. Bei jedem »So« drängte sie mit ihrer Hand das Blut zum Blute zurück, um die voneinander gewichenen Knochen wieder einzurenken. Eckart hielt die Augen geschlossen, seine Brust senkte sich langsam und regelmäßig, die Hände lagen regungslos an seiner Seite. Er schien keine Schmerzen mehr zu haben. Sarhild saß neben Farold auf der Bank und beobachtete ihre Mutter.
»Um einen Menschen zu heilen«, sagte Sarhild zu dem Fremden, »musst du viel wissen. Meine Mutter kennt die richtigen Sprüche und weiß um die Runen. Sie zeigt sie mir, wenn wir in der Grubenhütte sitzen und weben.«
Der schwarzhaarige Junge blickte sie ernst an. »Ihr wisst von den Runen?«
»Sie werden in die Borke des Stammes und die Äste eines Baumes geritzt, die ostwärts ragen. Als ich im letzten Winter krank war, hat meine Mutter das getan und die Hitze wich aus meinen Körper und die Schwäche ließ nach.«
»Dann ist deine Mutter eine mächtige Frau!«
Aleke streute noch einige Kräuter auf die Räucherpfanne und setzte sich neben ihren Mann, um seine schweißnasse Stirn zu berühren. Sie zog frische Kräuter aus einem Lederbeutel und breitete sie auf dem Tisch aus.
Farolds Augen weiteten sich. »Das Kraut da«, rief er und zeigte auf den Tisch, »bringt den Tod!«
Aleke folgte seinem Blick und strich dann leicht mit den Fingern über das Kraut. Sie winkte ihn heran. »Komm her, Farold!« Es lag keine Abneigung in ihrer Stimme.
Als Farold näher trat, bildete sich auf seiner Stirn ein leichter Schweißfilm.
»Du meinst das hier?«, fragte sie ihn.
Er sah sie misstrauisch an. »Ich sah, wie ein Hase starb, nachdem er das gefressen hatte.«
»Pflanzen, in denen ein feindlicher Wille wohnt, können von demjenigen, der ihre Seele kennt, durch weise Zubereitung zu einem Heilmittel werden. Diese Pflanze ist nur gefährlich für den, der sich nicht auskennt.«
Isbert schüttelte benommen den Kopf. Den anderen schien der Duft nicht die Sinne verwirrt zu haben. Er sah zu Sarhild hinüber, die den Fremden mit einem Blick musterte, den er noch nie an ihr gesehen hatte.
»Und ich kann auch erkennen, welcher Wille in einem Menschen steckt. Du hast meinen Mann nicht mit einem üblen Blick vom Dach stürzen lassen, das erkenne ich, wenn ich dich ansehe. Und doch ist dort Schatten, wo Licht sein sollte.« Aleke strich ihm die schwarzen Haare aus der Stirn, so dass sie seine Augen sehen konnte. »Etwas, was ich nicht zu erblicken vermag. Aber ich glaube deinen Worten und werde mit Eckart morgen sprechen. Sein Wort soll nicht zu deinem Ausschluss führen.«
Sarhild erhob sich. »Von was sprecht ihr?«
Farold sah sie aus seinen dunklen Augen an. »Es war Eckart, dein Vater … Er stürzte vom Dach, als ich ihn beobachtete.«
»Ich kann daran nichts Falsches entdecken.«
Aleke wischte sich die Hände an einem Leinentuch ab. »Eckart sprach vom üblen Blick. Nun ist es an Farold, die Unschuld seines Wesens zu bezeugen.«
Das Mädchen wurde blass und schüttelte den Kopf. »Vater muss sich geirrt haben!«
Aleke legte das Tuch beiseite. »Dann siehst du in Farold mehr, als die Männer es tun.«
Isbert konnte nicht länger an sich halten. »Aber Eckart hat die Worte gesprochen. Er sah den Fremden dort stehen. Er spürte den Blick, noch ehe er Farold sah.« Zorn drückte ihm fast die Kehle zu. Er wollte, dass dieser Fremde ging. Er hasste den Blick, den Sarhild diesem Eindringling zuwarf! Warum verteidigte sie ihn, wo doch ihr Vater schwere Anklage erhoben hatte?
»Wir entdecken leicht Böses, wo wir nichts verstehen«, sagte Aleke.
Isbert schüttelte den Kopf so heftig, dass ihm seine weißblonden Haare ins Gesicht fielen. »Wie soll man jemanden verstehen, der nicht spricht? Den ganzen Winter hat er kein Wort gesagt. Warum hat er nicht gesprochen? Er soll es sagen. Kein Mensch tut so etwas.«
Farold wich langsam zurück, dann wirbelte er herum und rannte nach draußen. Sarhild wollte ihm nachgehen, doch Isbert hielt sie zurück. Er trat nach draußen und rief dem Jungen nach: »Du hast gehört, was man dir gesagt hat. Du sollst hier in der Halle bleiben.«
Farold ging zielstrebig auf das Haus von Theodard zu und verschwand in seinem Inneren. Als Isbert sich umdrehte, sah er seinen Vater auf dem Dach von Eckarts Langhaus stehen, ausdruckslos zum Eingang seiner Halle blickend.
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