Adoption
Der Stamm an seinem Rücken war warm und die Krone des Baumes rauschte im Wind. Farold streckte die Beine aus und sah den grauen Wolken zu, die über den Himmel zogen. Eine Fliege setzte sich auf seinen Fuß, er betrachtete ihren bläulich schimmernden Körper, bevor er sie mit einer Bewegung des Beins verscheuchte. Von Ferne konnte er die Geräusche vom Gehöft hören, das Lachen von Rolant, die Worte der Frauen, durch das Dickicht der Sträucher kaum zu verstehen, das metallische Klopfen des Schmiedehammers, mit dem Manfred den alten Pflug bearbeitete. Eigentlich sollte Farold an der Senke Holz schlagen, doch die Axt lag unbeachtet im Gras. Er legte sich auf die Seite, so dass seine Wange auf dem Moos zu liegen kam, und beobachtete die Flechten. Mit den Fingern strich er über ihre pelzige Oberfläche und erinnerte sich daran, dass Aleke gesagt hatte, sie wären gut gegen blutende Wunden.
Seit vielen Nächten schon lag Eckart danieder und sie mussten die Arbeit für ihn mit erledigen, so dass Farold nicht mehr oft dazu kam, sich in den Wald zurückzuziehen. Er war nicht wie Arbogast, der von morgens bis abends auf den Feldern arbeiten konnte, ohne dass es ihm etwas auszumachen schien. Natürlich war ihm Arbogast an Kraft überlegen, die Tätigkeiten gingen ihm leichter von der Hand. Aber er empfand dabei nicht die Zufriedenheit, wie er sie bei dem großen, rothaarigen Jungen erblicken konnte, wenn sie im ersten Licht des Tages nach draußen traten und ihr Tagwerk begannen. Arbogast liebte den Geruch der Erde und das Wachsen des Getreides auf den Feldern. Er sah das ganze Land als einen Teil von sich an. Selbst Isbert, der viel lieber den Gesängen ihrer Vorfahren lauschte, fügte sich leichter in die Arbeit. Farold fühlte sich in der Enge des Gehöfts gefangen. Und doch blieb er. Für ihn gab es keinen Weg zurück, seit Ludger von den Räubern erschlagen worden war. Er hatte den harten strengen Mann gehasst, der ihn so häufig geschlagen hatte, dass er die Schläge irgendwann gar nicht mehr gespürt hatte. Doch in den lagen Winternächten war eine Unruhge in ihm gewachsen, die er fast schmerzhaft spüren konnte. Monat um Monat für Monat waren Ludger und er früher durch das gereist, um das Evangelium zu verkünden und die Heiden zu Gott zu bekehren. Durch alle Gaue des Sachsenreiches waren sie gezogen, unzählige Langhäuser, Gehöfte, Dörfer und Städte hatte er gesehen. Nun fühlte es sich fremd an, so lange an einem Ort zu verweilen. Den Gott der Christen vermisste er so wenig, wie er Zugang zu den Göttern der Sachsen besaß. Sie waren ihm einerlei. Doch Theodard war der erste Mensch, der gut zu ihm war. Ohne ihn wäre er von den Räubern erschlagen worden oder im Wald erfroren. Es war Theodards Hand, die ihn hier vor den anderen schützte, vor dem Hass des schneeblonden Jungen und seiner Mutter. Aber auch die anderen sahen ihn an, als wäre er ein Geschöpf der Nacht. Und nun hatte Theodard beschlossen, ihn in die Sippe aufzunehmen!
Am Abend würden sie sich in Theodards Halle treffen, ein Ochse war bereits geschlachtet worden. Ein starkes Tier, welches eine unersetzliche Hilfe bei der Feldarbeit bedeutete. Nun verblieben nur noch zwei andere Ochsen.
Farold ging zum Gehöft zurück. Am Waldrand blieb er stehen und beobachtete Arbogast und Rolant, die das Feld pflügten. Der Ochse senkte seinen schweren Kopf und tat einen weiteren Schritt. Arbogast zog am Stirnjoch, an dem der hölzerne Hakenpflug befestigt war, den Rolant führte. Der Wind trieb die Wolken schnell über ihre Köpfe hinweg. Seit dem Morgengrauen erwarteten sie den Regen, der das Pflügen des Ackers erschweren würde. Nun war die Hälfte des Tages herum und noch immer blieb es trocken. Rolant, der gebückt hinter dem Hakenpflug herging, hatte sein Schwert am Feldrand liegen gelassen; er war der Meinung, dass ein kluger Mann sich auch bei der Feldarbeit nie weit von seiner Waffe entfernen sollte. Mühsam stapften die beiden über den Acker, ihre Beinkleider verschmiert von Erde. Farold seufzte und kehrte zu seiner Axt zurück. Bis zum Dunkelwerden hatte er noch einiges an Holz zu schlagen.
Das Fleisch des Ochsen dampfte auf den großen Platten. Fettglänzende Hände griffen zu und stopften sich das reichliche Mahl in die Münder. Das Bier in den Trinkhörnern schäumte, die in hölzernen Gestellen vor ihrem Besitzer standen. Farold saß an der Seite von Theodard, auf dem Ehrenplatz gegenüber von Fredegard, und zupfte an dem Stück Fleisch vor sich herum. Die Frauen hatten frisches Brot gebacken, es gab Dickmilch und Met, man aß und trank und lärmte. Farold beobachtete die Sippe mit gesenktem Kopf. Manfred vertilgte mehr als jeder andere Mann am Tisch, die Muskelstränge seiner nackten Arme waren so gewaltig wie sein Appetit, dem der seiner Frau Wilburga nur wenig nachstand. Auf deren Schoßhockte eines ihrer Kinder, die Farold immer noch nicht auseinander halten konnte. Eckart saß am anderen Ende des Tisches, das Gesicht blass und eingefallen, und schenkte sich ein Bier nach dem anderen ein, während Aleke den Met bevorzugte. Sarhild sah immer wieder zu ihm herüber, doch er tat, als würde er es nicht bemerken. Die Brüder Arbogast und Isbert, die bald auch seine Brüder sein würden, saßen neben ihrer Mutter. Arbogast lachte viel und schlug Rolant häufig auf die Schulter.
Theodard füllte ein weiteres Trinkhorn mit Bier, nahm einen tiefen Zug und reichte es an seinen Ehrengast. Das Horn war so schwer, dass Farold es nur mit beiden Händen zum Mund heben konnte. Er trank einen Schluck des bitteren Getränks und reichte es weiter an Manfred, der es mit seiner riesigen Hand ergriff. Noch viele Hörner würden heute kreisen, eher der Abend vorüber war.
»Ja, manchmal«, hörte er Rolants Stimme über den Lärm hinweg, der sich an Arbogast wandte. »Ich kannte einen Mann, der lebte weit entfernt, der besaß ein Bärengewand und war ein Gast bei dem alten Owe. Sein Name war Björn. Ich war noch ein Junge, aber ich erinnere mich noch gut an die stürmische Nacht unter dem Dach des Owe, als draußen der Wind heulte und das Vieh sich ängstlich gegen die Wände drückte. Alle Männer und Frauen waren schweigsam, denn die Wölfe gingen um und hatten schon einige Tiere gerissen. Am frühen Morgen hatte einer der Männer mitten im Schneesturm einen großen Wolf gesehen, dessen Augen glühten wie die Glut in unserem Herdfeuer. Alle erwarteten sein Erscheinen. Der nächste Hof war weit entfernt und die ganze Zeit drang das Heulen der Wölfe durch den Sturm. Als das Heulen immer näher kam, erhob sich Björn und griff nach seinem Bärenumhang. In der Türöffnung blieb er stehen. Er legte sich den Umhang um seine Schultern. Seine Gestalt veränderte sich, wurde stämmiger, und vor aller Augen verwandelte er sich in einen riesigen Bären. Er blieb lange weg. Bei seiner Rückkehr trug er den Umhang über den Arm und das Fell war über und über mit Blut beschmiert. Keiner der Wölfe wurde diesen Winter mehr gesehen.«
»Sie können selbst zu Bären werden!«, sagte Isbert, dessen Wangen vom Alkohol gerötet waren.
Manfred, noch mit vollem Mund, beugte sich zu ihnen hinüber. »Mein Vater erzählte mir davon, dass einer in seiner Halle saß, während draußen ein ungeheurer Bär kämpfte und alle Gegner niederstreckte. Er war ein Bärenhäuter und während seine menschliche Gestalt im Hause weilte, kämpfte seine Tiergestalt draußen und erwürgte die Feinde.«
»Denn niemand kann ihnen Schaden zufügen«, sagte Isbert. »Es sind Wodens Männer, es gibt keine stärkeren Krieger als sie.«
Rolant wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Ich kämpfte mit ihnen gegen die Franken, als sie den Rhein überquerten. Ihre Schilde waren schwarz, ihre Leiber bemalt und sie kämpften meistens bei Nacht. Sie gingen ohne Rüstung in die Schlacht, toll wie Wölfe, und bissen in ihre Schilder. Ihre Kraft war glich den von zwölf Männern und weder Eisen noch Feuer konnten sie verwunden. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«
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