1 ...7 8 9 11 12 13 ...39 Mitten in dem Trubel erhob sich Theodard am Kopf des Tisches, ein silbernes Trinkhorn in der Hand, dessen feine Gravuren durch den langen Gebrauch kaum noch zu erkennen waren. Seine große Gestalt zeichnete sich deutlich vor dem Herdfeuer ab. Schnell wurde es still in der Halle. »Als wir diesen Jungen in unsere Halle aufnahmen«, sagte er, »gaben wir dem Heil, der nichts besaß. Speis und Trank stärkten ihn. Nun ist er bald ein Teil unserer Sippe. Unsere Vorfahren werden seine Vorfahren, unser Heil wird seines werden. Alles, was er in Zukunft tun wird, wird uns betreffen, und jede unserer Handlungen wird auch die seine sein.«
Farold griff in seine Tasche und spürte das kleine silberne Kreuz. Seine Finger fuhren die vertrauten Umrisse und die feinen Ziselierungen nach, die auf der Vorderseite eingraviert waren. Sein Herz klopfte so stark in seiner Brust, dass er fast keine Luft bekam.
Theodard nahm einen Schluck aus dem silbernen Horn und reichte es an seine Frau weiter. Fredegard zögerte kurz, blickte Farold an, dann trank sie, ohne eine Miene zu verziehen.
Sie ist nicht glücklich darüber, dachte Farold, am liebsten würde sie mich in den Wald hinausjagen. Alles, was er in Zukunft tun wird, wird uns betreffen, und jeder unserer Handlungen wird auch die seine sein.
Isbert versteckte seine Gefühle nicht so gut, als er das Horn entgegennahm. Farold wendete sich an Theodard, der dabei zusah, wie das Horn langsam um den Tisch kreiste, bis es bei ihm ankam. Alle Augen waren auf ihn gerichtet, während er den letzten Schluck aus dem Horn nahm. Als dies geschehen war, kehrte Schweigen ein und das Knistern des Herdfeuers war deutlich zu hören. Theodard trat neben den Schuh, den er am Morgen aus dem Fell des rechten Beines des geschlachteten Ochsen gefertigt hatte. Er stellte seinen bloßen Fuß in den großen Schuh und Farold meinte, die alte Sassia auf ihrem Platz hinter dem Herdfeuer kichern zu hören.
Wie im Traum folgte Farold der Aufforderung Theodards. Das Dach der Halle schien mit jedem Schritt immer höher zu wachsen, kein Anwesender sagte etwas. Theodard blickte ihn so ernst an, dass Farold nicht mehr sicher war, ob er ihm wohl oder übel gesinnt war. Er wischte sich die feuchten Handflächen an der Tunika ab und blieb vor dem großen Mann stehen, den Blick auf das Donaramulett gerichtet, welches der Mann an einer Lederschnur um seinen breiten Hals trug, ein auf dem Kopf stehender Hammer. Theodard nickte zu dem Schuh aus Ochsenfell. Farold begann mit unsicheren Fingern, sein Fußzeug zu lösen. Schweiß lief ihm in die Augen und er musste sich mehrmals mit dem Ärmel über die brennenden Lider fahren. Der Schuh war ihm viel zu groß. Als seine Fußsohle das Ochsenfell berührte, spürte er die raue Oberfläche. Für einen Augenblick durchzuckte ihn das Gefühl, dass die lange Kette von Theodards Ahnen ihm dabei zusah, ihre Gesichter ihm zuwandten und ihre Augen sein Handeln betrachteten. Er bemerkte kaum, wie er den Fuß wieder aus dem Schuh zog und auf die Bank zurückkehrte.
Einer nach dem anderen trat nun nach vorne und stellte seinen Fuß in den Ochsenfellschuh. Farold bekam von dem kaum etwas mit. Was war passiert? Farold fröstelte am ganzen Körper. Der Rauch des Herdfeuers reizte seine Kehle, er hustete und trank mit einem Zug das Horn leer, bis ihm schwindelte.
Dann erhob sich Isbert und stellte seinen Fuß in den Schuh. Plötzlich zuckte er zusammen, als hätte er seine Zehen in Eiswasser gestreckt. Farold wurde aus seinen Gedanken gerissen und bemerkte, wie sich die Hände des weißhaarigen Jungen verkrampften. Er riss den Fuß so schnell wieder hinaus, dass er dabei nach hinten fiel.
Fredegard sprang sofort zu ihrem Sohn und streichelte über sein Haar, doch dieser schüttelte nur den Kopf. »Mir war schwindlig geworden, das Bier bekam mir nicht!«, sagte er betont ruhig, aber Farold konnte das leichte Zittern in seiner Stimme wahrnehmen. Seine Mutter schien sich damit zufriedenzugeben. Als nun Theodard die Worte an die Anwesenden richtete, war der Rest von Sorge aus ihrer Miene gewichen.
»Ich führe diesen Jungen zu Gütern, die ich ihm gebe, zu Gabe und Entgelt, zu Stuhl und Sitz, zu Buße und vollem Mannesrecht, als ob seine Mutter mit Brautgeschenk geworben worden wäre.« Theodard reichte ihm einen Silberarmreif. Farold sah auf, als er das kostbare Geschenk gewahrte. Es schien wirklich für ihn zu sein. Der Silberreif war über und über mit verschlungenen Ästen verziert, vier Runen blinkten im Licht des Feuers. »Ich bestätige und gebe dir den Namen Farold!«, sagte Theodard, »und ich wünsche dir Heil in dem Namen!«
Farold nahm vorsichtig den Armreif und legte ihn um sein schmales Handgelenk. Er war ihm zu groß und doch hatte Farold noch nie so etwas Schönes gesehen, mit Ausnahme seines Silberkreuzes. Die Männer und Frauen hoben ihre Hörner und hießen ihn mit lautem Rufen willkommen.
Irminsul
Mit einem Aufseufzen ließ sich Arbogast auf einen Fels am Wegesrand fallen und streckte die langen Beine aus. Seit den frühen Morgenstunden war er mit seinem Vater und seinen Brüdern unterwegs und hatte nur eine kurze Rast im Schatten einer Eiche gemacht, um den Proviant zu verzehren. Theodard, der mit seinen ruhigen, gleichmäßigen Schritten etwas vorausgegangen war, blieb stehen und stützte seine kräftigen Arme in die Hüfte. »Wenn du so weitermachst, werden wir die Eresburg erst weit nach Anbruch der Dunkelheit erreichen.«
Arbogast spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg, und hörte den fröhlichen Isbert lachen. Sein jüngerer Bruder blieb neben ihm stehen und klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken. »Unser Rotschopf ist sesshaft wie eine Eiche und verlässt den Hof nicht gerne. Für ihn wiegt jeder Schritt doppelt!« Isbert lachte übermütig. Er freute sich von allen am meisten, zur Irminsul zu reisen. »Guck dir Farold an«, sagte Isbert und zeigte auf den schwarzhaarigen Jungen, der gerade aus dem Nadelgehölz auf den Weg trat. »Er ist wie einer der Hunde der Edelinge, die beständig links und rechts des Weges streben.«
Arbogast knurrte unwillig und besah sich den drahtigen Jungen, der leichtfüßig zu Theodard lief, musste dann aber doch lächeln. Seit Theodard den Jungen in die Sippe aufgenommen hatte, vergalt Farold dies mit einer Anhänglichkeit an seinen Adoptivvater, dass Isbert ihm schließlich den Namen »Vaters Schatten« gegeben hatte.
Der schmale Pfad machte einen Knick nach links und gab den Blick ins Tal frei, durch das sich ein Fluss wand. »Das ist die Diemel!«, erklärte Theodard und blinzelte gegen die Sonne zum glitzernden Gewässer hinunter. »Etwas weiter hinten fließt sie in die Weser.«
Arbogast, der erst zweimal den heimatlichen Hof verlassen hatte, bestaunte die Aussicht, die sich ihnen bot. Für sie alle war der Weg zur Irminsul, des größten Heiligtums ihres Volkes, eine große und aufregende Reise. Nur Farold schien nicht aufgeregter als sonst zu sein. Arbogast kletterte auf einen kleinen Hang, um eine bessere Sicht ins Tal zu haben, strich sich das dichte rote Haar aus der Stirn und ließ seinen Blick über die hügelige Ebene schweifen, die sich so sehr von seiner flachen Heimat Westfalen unterschied. Noch nie war er so weit vom heimatlichen Hof entfernt gewesen. Als ihr Vater ihnen vor einigen Nächten seinen Entschluss mitteilte, hatte er jeden Augenblick darauf hingefiebert und die Hofarbeit war ihm doppelt so schnell von der Hand gegangen. Rolant war schon vor drei Nächten aufgebrochen, um eine befreundete Sippe in der Nähe aufzusuchen, und wollte sie an der Irminsul erwarten. »Der Weltenbaum!«, flüsterte Arbogast. Isbert redete seit Tagen von nichts anderem, so dass sogar Fredegard ihn einmal gescholten hatte, er solle sich doch mehr auf das Tagwerk konzentrieren. »Ein Tag, der es wert ist unseren Nachkommen überliefert zu werden«, hatte Arbogast gespottet und diesmal war es Isbert, der ihn sprachlos musterte.
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