Theodards Blick ruhte die ganze Zeit auf dem Gesicht von Rolant, seine Augen waren nur noch schmale Schlitze. »Konntet ihr die Irminsul schützen?«
Rolant schüttelte langsam den Kopf. Es brauchte eine Zeit, bis Arbogast die Worte des jungen Kriegers verstehen konnte: »Die Franken zerstörten sie!«
Theodard krallte seine Hände in das Gras und schrie vor Wut laut auf. »Gottneidinge!«
»Das kann nicht sein!«, flüsterte Isbert so leise, dass nur Arbogast es hören konnte, der dicht neben ihm saß.
Arbogast schloss die Augen und hörte die Wutschreie seines Vaters wie durch einen Nebel hindurch. Er fühlte seine Hände kalt werden und das Gesicht brannte, als hätte man es in glühenden Kohlen gehalten. Immer wieder hörte er die Worte Rolants, bis sie keinen Sinn mehr ergaben. Langsam öffnete Arbogast wieder die Augen.
Rolant hatte Theodard die Hand auf die Schulter gelegt und redete auf ihn ein. »Die Franken brauchten drei Nächte, um sie niederzureißen, während ihre Kuttenträger Beschwörungen sangen.«
»Wenn die Verbindung unterbrochen ist, gerät die Welt ins Wanken ...«, zitierte Isbert mit leerer Stimme und alle wussten, was er meinte. So wie Yggdrasil zu Beginn des Weltenbrandes fällt, bedeutet auch die Zerstörung der Irminsul den Verlust der Verbindung von Himmel und Erde. Ihr Fall kündigte ein neues Zeitalter an.
Ein neues Zeitalter, dachte Arbogast, unsere Vorfahren haben es gewusst. Feuer und Schwert werden die Welt verwüsten, dies war ihr aller Schicksal.
Theodard spuckte aus und setzte einen Trinkschlauch mit Met an die Lippen, den er halb leerte, bevor er ihn Roland reichte. Der junge Mann fuhr fort: »Mit einigen wenigen gelang mir die Flucht. Wir versteckten uns in den Wäldern, da es überall von fränkischen Kriegern wimmelte, und beschlossen, die Kunde von dem, was wir gesehen hatten, in alle Gaue zu tragen.«
»Wo sind sie jetzt?«, fragte Theodard mit versteinertem Gesicht.
»Gestern zog König Karl mit seinem Heer weiter Richtung Rhein, aber es sind noch viele kleine Gruppen fränkischer Krieger in der Nähe. Eine Besatzung wurde in der Eresburg zurückgelassen. Ich sah nie ein so großes Heer.« Rolant wirkte fassungslos. »Es stimmt, dass ihr König ein Mann aus Eisen ist.«
»Ich muss sie sehen!«
Alle Augen wendeten sich Isbert zu, der bleich und erschöpft aussah. Arbogast schüttelte den Kopf. »Du hast doch gehört, die Irminsul steht nicht mehr.« In dem Moment, wo er die Worte aussprach, kamen sie ihm selbst unwirklich vor.
»Ich will sie sehen!«, beharrte Isbert und presste die Kiefer fest zusammen. »Wenn ihr nicht mitkommt, gehe ich alleine ...«
»Um den Franken in die Hände zu fallen?«, fragte Theodard.
»Ich werde mich in den Wäldern verstecken, wie Farold ... Keiner wird mich sehen!«
Arbogast hatte seinen jüngeren Bruder noch nie so verbissen gesehen. Die Augen glänzten fiebrig und er machte den Eindruck, als wollte er jeden Moment aufspringen und in den Wald laufen. Aber er hatte recht! Waren sie den langen Weg gegangen, um jetzt, kurz vor dem Ziel, wieder umzukehren? Er musste die Zerstörung des Heiligtums, den ganzen Stolz ihres Volkes, mit eigenen Augen sehen. Dieser gigantische Weltenbaum, von dem ihnen ihr Vater erzählte, seit Isbert und er kleine Kinder gewesen waren, zu dem schon sein Vater und dessen Vater und Generationen von Sachsen gezogen waren ...
»Es ist nicht mehr weit, warum sollten wir jetzt umkehren?«, meinte Arbogast und erhielt einen dankbaren Blick von Isbert. »Ich will sehen, was die Franken uns angetan haben. Vater, wir können nicht einfach nach Hause zurückkehren wie geprügelte Hunde!«
»Geprügelte Hunde!« Die Fäuste seines Vaters ballten sich. »Die Franken haben keine Ahnung, was sie losgetreten haben! König Karl wird noch lange an diesen Tag denken, als das Unglück seinen Anfang nahm.«
»Dann gehen wir also?«, sagte Farold, der bis dahin still an Theodards Seite gesessen hatte.
»Ja, wir gehen!«, antwortete Theodard.
Arbogast meinte zu sehen, wie Farold bei diesen Worten zusammenzuckte.
Lange starrten sie aus dem Unterholz auf den verwüsteten Platz, über dem noch immer der Brandgeruch hing. Ein schwacher Wind wehte die Asche bis zu ihren Füßen, die Äste und Blätter bedeckte. Die Erde war schwarz und verkohlt, wo man die riesige Irminsul gefällt hatte, von deren Stamm dünne Rauchfäden aufstiegen. Überall lagen tote Krieger, Sachsen wie Franken, und Krähen staksten zwischen den Leichnamen hin und her. Ihr Krächzen hallte schrill über den Platz.
Seit sie den heiligen Hain betreten hatten, war ihnen die große Anzahl an Krähenvögel aufgefallen. Sie wussten, dass Wodens Boten darunter sein mussten und er schon Kunde von dem Schicksal der tapferen Männer besaß, die ihr Blut vergossen hatten. Sie hatten einen Bogen um die besetzte Eresburg gemacht und waren durch dichte Wälder gegangen, durch die sie Rolant führte. Die knorrigen Bäume hatten ihre bemoosten Äste hoch über ihren Köpfen in den Himmel gestreckt und der zunehmende Wind hatte bösartig in ihnen gesungen. Der Groll der Bäume war deutlich zu spüren gewesen. Isbert hatte immer wieder Schutzzeichen geschlagen, während er den Kopf zwischen die Schulter zog. Ehrfurchtsvoll waren sie unter den mächtigen Kronen der alten Riesen entlanggeschritten. Manchmal hatten sie die entfernten Stimmen fränkischer Krieger gehört, aber Theodard wollte sich auf keinen Kampf einlassen, bis sie die Irminsul erreichten. Er hatte befürchtet, eine Übermacht feindlicher Truppen damit anzulocken und ihnen den Rückweg unmöglich zu machen. Dass seine Söhne dabei waren, schien ihm nicht zu behagen, denn er sah sich häufiger als üblich um und trieb sie zur Eile an, obwohl das Gehen ihm sichtbar Schmerzen bereitete. Schon bald war der Verband durchgeblutet, aber Theodard schüttelte nur entschlossen den Kopf und ließ sich keine Schwäche anmerken. Doch zum Schluss war sein Hinken so stark geworden, dass er das Tempo nicht mehr halten konnte und sie langsamer den Hain durchqueren mussten. Arbogast fragte sich, wie er den Rückweg schaffen wollte.
In einem Kreis um die riesige Irminsul lagen nackte Männer mit geschwärzter Haut, die Berserker. Viele fränkische Krieger waren von ihrer Hand gefallen, so dass die Berserker fast unter ihnen begraben waren.
»Es sind wahrhaft dem Woden geweihte Männer!«, sagte Isbert.
Im Gegensatz zu den anderen Toten waren bei den Berserkern keine Wunden sichtbar und es schien Arbogast, als könnten sie jeden Augenblick wieder aufspringen und in ihren Kampfesrausch verfallen. Lange blieben ihre Blicke an dem Heiligtum hängen. Arbogast ballte die Hände zu Fäusten, so sehr fraßen Wut und Schmach an ihm. Er wünschte, er wäre einige Jahre älter gewesen und hätte mit seinem Schwert die Irminsul verteidigen können. So gewaltig war ihr Umfang, dass Arbogast verstehen konnte, dass die Franken mehrere Tage brauchten, um sie zu zerstören. Die wenigen Hütten innerhalb des heiligen Haines waren niedergebrannt worden und hier lagen auch die Körper einiger Frauen. An seiner Seite bewegte sich Isbert unruhig und Arbogast blickte ihn fragend an.
»Die Weihegaben!«, flüsterte er.
Arbogast erinnerte sich an Erzählungen von sagenhaften Gold– und Silberschätzen, die im Laufe der Generationen den Göttern geopfert wurden, und fragte sich, ob die Franken sie gefunden hatten.
»Sie haben alles Gold und Silber mit sich fortgeführt«, antwortete Rolant, »um es dem Königsschatz einzuverleiben.«
»Seht!«, sagte Farold und zeigte auf den Platz hinaus. »Sie bewegt sich!«
Vor einer der Hütten lag ein Mädchen auf dem Rücken, es musste ungefähr ihr Alter haben, und versuchte sich langsam auf den Rücken zu drehen. Der untere Teil ihres Kleides war schwarz von Blut.
»Ich helfe ihr!«, stieß Farold hervor und sprang auf die Lichtung hinaus, bevor Rolant ihn festhalten konnte. Leichtfüßig setzte er über einige reglose Körper hinweg auf die Hütte zu.
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