»Na. Auch endlich da?«
»Wo warst du?«, fragte Marcel.
Robert legte eine Zehnerpackung Eier auf das Fensterbrett und hielt dann die Tüte mit den zwei in Alufolie eingepackten Dönern hoch.
»Hast du mir einen mitgebracht?«
»Er hat MIR einen mitgebracht.«
Vanessa ging an ihrem Mann vorbei und nahm Robert die Tüte ab, damit er sich entkleiden konnte. Auf der Rücktour zur Küche, griff sie nach dem Zettel in Marcels Hand und er ließ sie gewähren.
Bedächtig legte sie das Blatt Papier zuerst unauffällig in den Postkartenständer, dann packte sie die Döner einzeln auf große Teller. Marcel und Robert folgten ihr in die Küche. Mit einem der Brillentücher, die sich in allerhand Schubladen im ganzen Haus versteckten, reinigte Marcel seine Brille.
»Und was soll ich essen?«
»Da sind noch Nudeln im Kühlschrank«, sagte Robert.
»Netter Versuch, Schatz. Abmachung ist Abmachung.«
»Ach, Mom.«
»Nenn mich nicht so!«
Vanessa hielt ihrem Sohn den erhobenen Zeigefinger entgegen und sah ihn finster an. Sie hatte ihm schon mehrmals erklärt, dass sie nicht in einem amerikanischen Blockbuster waren und sie diese Bezeichnung herabwürdigend fand. Da war sie sich mit ihrem Mann einig.
Dennoch setzte Marcel lediglich seine Brille wieder auf und sagte:
»Ich kann sie doch auch essen.«
»Aber ich habe MEINEM Sohn gerade gesagt, dass er nur einen Döner bekommt, wenn er die Nudeln auch isst.«
»Dann esse ich die Hälfte von dem Döner MEINES Sohns und wir beide essen die Nudeln.«
Sie funkelten sich beide eine Weile lang an. Nach kurzem Bedenken willigte Vanessa ein. Sie setzen sich gemeinsam an den Tisch, nur Robert blieb stehen.
»Kann ich den Fernseher anmachen?«
»Jetzt, wo wir alle mal gemeinsam essen, fände ich es schön, wenn wir auch mal miteinander reden könnten.«
»Worüber möchtest du reden, Schatz?«, fragte Marcel provokant.
Vanessa sah ihren Mann tadelnd an, während er zum Kühlschrank ging und sich die Nudeln aus der Schüssel auf einen tiefen Teller schüttete. Er stellte die Mikrowelle an und das Summen übertönte beinahe ihre Worte.
»Was gibt’s denn Neues von der Arbeit? Oder in der Schule?«
Sie sah ihre Männer nacheinander an. Robert ließ sich frustriert auf den Stuhl ihr gegenüber fallen. Marcel blieb vor der Mikrowelle stehen.
»Nichts.«
»Gar nichts?«, hakte sie nach.
»Hm.«
Robert hatte seinen Döner entpackt und biss herzhaft in die Spitze. Die Soße tropfte auf die silberne Folie und Vanessa sah ihren Mann an Robert vorbei an.
»Und die Arbeit?«
Sein Blick huschte zum Postkartenständer neben ihr, dann sah er sie wieder an.
»Na ja, war nicht viel los. Ein paar Artikel, ein paar Sterbeanzeigen. Nichts weiter.«
Das Bing der Mikrowelle ertönte und Marcel schien recht froh zu sein, etwas zu tun zu haben. Mit einer Gemächlichkeit, die nicht zu ihm passte in Anbetracht seines regen Appetits, ging er mit dem Teller zu seinem Platz. Er begann mit der Gabel in seinem Essen herumzustochern.
»Was hast du heute so für Kunden gehabt?«
»Das Übliche«, antwortete Vanessa.
»Genauer?«
Sie grinste ihren Mann an, der begann, die Nudeln genüsslich in den Mund zu schieben.
»Ehekrisen, ätzende Hunde und beschissene Technik.«
»So nenn ich meinen nächsten Artikel.«
»Mach das!«
Sie schmunzelten alle drei und eine Pause trat ein. Vanessa wollte unbedingt noch ein Thema anschneiden, das sie interessierte, doch es bot sich keine Gelegenheit. Also entschied sie sich, einfach drauflos zu fragen.
»Robert, hast du Tom heute zufällig in der Schule gesehen?«
»Der kleine Müller? Wieso?«
»Ich hab’ ihn heute früh vermisst. Sonst nimmt er mir immer die Briefe für seine Oma ab.«
Robert sprach mit vollem Mund, aber das war ihr jetzt nicht wichtig genug, um es zu kritisieren. Viel wichtiger war die gerunzelte Stirn ihres Sohns. Er überlegte einen Tick zu lang.
»Ja. Ich denke, der stand in der großen Pause auf dem Hof.«
»Du könntest Detektivin werden bei deiner Neugier«, sagte ihr Mann.
»Das ist eher Mutterinstinkt. Bei ihm war niemand Zuhause und ich hatte schon Sorge, er sei krank.«
Marcels Stirn legte sich in Falten. Sie wusste, dass er sie durchschaut hatte. Dabei war sie selbst erstaunt, wie gut sie lügen konnte. Zumindest Robert kaufte es ihr ab und stellte keine Rückfragen. Dafür wechselte er das Thema.
»Ich muss noch zu Henrik. Ich wollte ihm die Hausaufgaben vorbeibringen.«
»Bis wann?«, fragte Vanessa.
»Acht?«
»Ihr geht nicht in den Wald!«, sagte Marcel.
»Henrik wird kaum das Haus verlassen bei seinem momentanen Zustand.«
Vanessa und Marcel sahen sich mitleidvoll an. Schließlich gab Roberts Vater sein Okay.
»Klasse. Bis dann.«
Robert legte den halb aufgegessenen Döner auf seinen Teller und erhob sich von seinem Platz. In Windeseile hatte er sich wieder Schuhe und Jacke angezogen und die Wohnung verlassen.
Marcel stocherte mit der Gabel in dem angefangenen Fladenbrot herum. Sein Blick war auf den Teller gerichtet.
»Er ist komisch seit dem Vorfall.«
»Wie wärst du drauf, wenn dein Mitschüler tot im Wald aufgefunden worden wäre?«
»Ob wir mit ihm reden sollten?«
»Nein«, widersprach Vanessa ihrem Mann, »Wenn er reden will, wird er schon auf uns zukommen.«
»Wenn du meinst.«
Er nahm den Döner in die Hand und biss hinein. Vanessa hatte nur ein wenig an ihrem Döner geknabbert. Viel lieber genoss sie die Zeit mit ihrer Familie. Nun biss sie ebenso wie ihr Mann hinein, ließ ihn dann jedoch sinken. Ihr Blick fiel auf den Postkartenständer.
»Was war heute auf der Arbeit los?«
Sie wagte einen Blick in sein Gesicht und sah seine herabhängenden Mundwinkel. Plötzlich sah er zutiefst entkräftet und müde aus. So kannte sie ihn nur, wenn er Nächte an einem Artikel oder einer ganzen Kolumne saß und eine feste Deadline hatte.
»Hast du noch nicht davon gehört?«
Sie fühlte sich an das Gespräch mit ihren Kollegen erinnert und ahnte Schreckliches. Mit zittriger Hand griff sie nach dem Blatt im Postkartenständer und faltete es auf dem Küchentisch auf. Es war ein Vordruck für eine Handvoll Zeitungsartikel. Einer erweckte aber Vanessas Aufmerksamkeit mehr als die anderen.
»Doktor Steinert?« Vanessa sah ihren Mann schockiert an. »Den kenn ich!«
»Das dachte ich mir schon.«
»Wenn Henrik das erfährt …«
»Solang der Artikel nicht veröffentlicht ist, erfährt niemand irgendwas! Apropos, was war mit Tom?«
»Tom?« Marcel sah seine Frau mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ach, ja. Der Vorfall.«
»Was?«, fragte er wie ein Mann, der ahnte, dass seine Frau sogleich eine Affäre beichtete.
Sie erzählte ihm von Toms Aktion und bat ihn, nichts davon durchsickern zu lassen. Ebenso schwor sie, dass sie dem Jungen die Leviten gelesen hatte und er es nie wieder tun wolle.
»Wir sagen Robert nichts von Tom!«
»Und erwähnen in seiner Gegenwart nicht den Zirkus«, ergänzte Vanessa.
»Als wenn er davon nicht schon längst gehört hat. Arachnophobiker sehen auch überall Spinnen. Und am Dienstag ist Halloween.«
»Er hasst den Oktober.«
»Ich mittlerweile auch.«
Robert lief die Straße entlang. Wie üblich umging er den Wald, obwohl das eine perfekte Abkürzung gewesen wäre zu Henriks Wohnung. Seit Wilhelms Tod scheute er die Umgebung um die Ortschaft und nahm lieber offizielle Wege wie die gepflasterte Straße, die seinen mit dem Nachbarort verband.
Seit seinem fünfzehnten Geburtstag im Januar joggte er regelmäßig. Es half ihm, Stress abzubauen, und er war merklich durchtrainiert für seine sonst eher schlaksige Figur.
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