»Könntest du deinen Kunden sagen, dass ich kein Hol- und Bringdienst bin?«
Fabian Wohlfarth, dem die Kneipe gehörte, gähnte einmal herzhaft und hielt sich eine Hand vor den Mund. Mit der anderen ergriff er den Brief.
»Lange Nacht?«
»Kann man wohl sagen.«
»Henrik?«
»Ja. Ein Wunder, dass du mich überhaupt erwischt hast. Ich mach heute nur bis Mittag. Dann geh ich nach Hause.«
»Alles klar.« Vanessa machte auf dem Absatz kehrt. »Grüß Henrik von mir!«
»Mach ich.«
Als Vanessa in der Poststation ankam, fand sie zwei ordnungsgemäß auf dem Hof geparkte Autos vor. Sie leerte ihren Wagen und steckte die unbearbeiteten Sendungen in die vorgesehenen Behälter. Dann machte sie die Abrechnung mit ihrem Scanner und stellte ihn auf die Ladestation.
In der Küche traf sie Bettina und Anne.
»Gibt es noch Kaffee?«
»Klar. Grad frisch aufgebrüht«, sagte Bettina und goss ihr eine Tasse ein.
Vanessa ließ den Beutel mit den Pfefferminzbonbons auf den Tisch fallen und sofort machte sich Anne darüber her. Gerade als sie sich den beiden gegenüber setzte, fragte Bettina:
»Hast du schon davon gehört?«
»Davon, dass sich Hannes von Silvia trennt, oder dass die Kegeltruppe sich jetzt immer dienstags trifft?«
Ihre Kollegin rollte mit den Augen.
»Nein. Von dem Polizeieinsatz. An der Kirche.« Vanessa schüttelte den Kopf. »Aber dein Mann ist doch Journalist.«
»Richtig. Er ist Journalist, nicht Kriminalbeamter.« Ihr Tonfall wurde patzig. »Und er ruft mich auch nicht pausenlos an oder ist rund um die Uhr mit dem Polizeifunk verbunden.«
»Kam mir bei der Meldung über den Jungen aber so vor.«
»Da hat ihn sein Chef geschickt, weil er am nächsten am Tatort war. Und weil er die Gegend hier kennt und wusste, wo dieses Waldstück überhaupt liegt. Das hätte ein Außenstehender doch nie gefunden.«
»Also reines Glück.«
»Ich würde bei einem Leichenfund nicht von Glück sprechen.«
Vanessa wurde wütend über Bettinas achtlose Wortwahl. Sie dachte an den Segensspruch an Frau Wagners Tür und an Benjamin, der die Leiche des Pfarrerssohns gefunden hatte.
Sie nahm einen tiefen Schluck aus ihrer Tasse. Prompt verbrühte sie sich die Zunge. Schnell fuhr sie sich mit der verbrannten Stelle über die Zähne.
Eine angespannte Pause entstand, bis Anne, eine neue Aushilfe, das Thema wechselte.
»Wer sind Hannes und Silvia?«
»Wiechern. Fasanenweg 4«, antwortete Bettina, »Die in dem Haus mit der grünen Tür.«
»Ah. Und die lassen sich scheiden?«
»Trennung auf Zeit, soweit ich das verstanden habe«, sagte Vanessa.
Sie war der Neuen dankbar, dass sie nicht weiter auf ihren Mann einging. Seit er diesen vermaledeiten Artikel geschrieben hatte, fragten die Leute sie pausenlos nach dem aktuellen Ermittlungsstand. Wilhelms Tod war ein Schock für die gesamte Region.
»War die Silvia nicht vor ihm mit Vincent zusammen? Vincent Heidensohn?«
»Wohl eher Hurensohn. Der hat schon seine zweite Frau mit einer jüngeren betrogen.«
Vanessa nickte auf Bettinas Feststellung hin und Anne stellte Rückfragen zur Familie. Sie hätte sich nicht auf das Grundstück getraut, weil der Hund nicht angeleint war. Bettina gab ihr Tipps, wie sie damit am besten umging. Als das Thema beendet war, fragte Vanessa noch einmal nach.
»Was ist da jetzt genau passiert? Du hattest doch die Tour, Bettina.«
»An der Kirche? Ja, da war ich. Aber man kam nicht einmal die Straße rauf. Alles von der Polizei abgesperrt. Ich hab’ die Post einfach wieder mitgenommen und versuch es morgen nochmal. Dann hör ich sicher auch Genaueres.«
»Wenn Vanessa nicht vor dir Bescheid weiß«, sagte Anne.
»Jetzt hört endlich auf!«
»Schon gut«, sagte Bettina grinsend, »Ich weiß nur, dass es ein großer Einsatz war. Notarzt, Polizei, alle dabei. Ob da was bei Meichsners passiert ist?«
»Vielleicht ein Selbstmordversuch?«, meinte Anne.
»Also, wir müssen ja nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen!«
Bettina sah Anne tadelnd an und nahm dann selbst einen Schluck aus ihrer Tasse.
»Bei den Dingen, die in letzter Zeit hier ablaufen? Ich bin total froh, dass ich hierhergekommen bin«, sagte Anne. »Hier ist wenigstens was los, nicht so wie auf anderen Dörfern.«
Vanessa klappte die Kinnlade herunter. Die Neue war wirklich unverfroren. Selbst Bettina schüttelte tadelnd den Kopf. Anne verstummte. Sie kannte weder die Pfarrersfamilie noch den ermordeten Wilhelm, Leute von hier durchaus, ob Christ oder nicht.
Es war einst so ruhig gewesen auf dem Land. Ihr Mann Marcel war hier groß geworden. Sie hatten sich während seines Studiums kennengelernt, als er zur Aushilfe bei der DHL gearbeitet hatte.
Als sie schwanger wurde, zogen sie zurück in seinen Heimatort und bauten ein Haus, direkt in der Nähe seiner Eltern. Ihre Ausbildung hatte sie unterbrechen müssen.
Idyllisch war es gewesen. Man kannte sich, man verstand sich. Ihr Sohn wuchs behütet auf und bis auf den Tod von Marcels Eltern hatten sie nie einen Toten zu viel beklagen müssen.
Und dann war der achtzehnjährige Wilhelm Meichsner vor einer Woche verschwunden. Man fand ihn 24 Stunden später in einem Waldstück tot auf. Ihr Mann schrieb den Artikel, in dem der Mord noch reine Spekulation war.
Nach dem kriminologischen Befund war jedoch klar, dass Wilhelm mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen wurde. Wenige Tage später begannen unabhängig voneinander verschiedene Leute zu behaupten, dass sie in besagtem Zeitraum einen Clown am Waldrand gesehen hätten.
Der Killerclown-Hype war erst ein Jahr her und man hatte gedacht, es sei nur ein kurzer Trend. Jetzt traf er ihre Heimatregion erneut. Dieses Mal forderte er jedoch Opfer. Es musste am bevorstehenden Halloweenfest liegen.
Bettina holte Vanessa aus ihren Gedanken, indem sie sie mit der Hand an der Schulter berührte.
»Hast du deinen Schlüssel schon eingeworfen?«
»Ja.«
»Dann können wir ja gehen.«
Nachdem sie ihren Kaffee ausgetrunken hatte, verließ sie mit Bettina zusammen die Küche. Anne spülte noch die Tassen ab. Den Rest würden die anderen Zusteller oder die Reinigungskraft am Ende des Tages erledigen.
Als sie in den großen Raum mit den gelben Sortierbehältern kamen, betrat bereits ein weiterer Kollege mit hochgehaltenem Scanner den Raum.
»Ich hasse dieses Drecksteil. Jede Minute: Haben Sie schon dies? Haben Sie schon das? Und dann geht der immer wieder aus.«
»Hast du den Akku überprüft?«, fragte Bettina.
»Scheiß auf den Akku! Dieses verdammte Update wird es gewesen sein. Das macht nichts leichter, aber vieles komplizierter. Ich hatte gerade …«
Ein schriller Schrei aus dem hinteren Teil des Raums unterbrach ihn.
»Wem gehört das denn?«
»Was?«, fragte Bettina.
»Diese Maske«, sagte die Kollegin, die gerade den Raum betreten hatte.
»Das ist Vanessas Tisch«, sagte Anne.
»Exakt. Dann gehört sie wohl mir.«
»Sag bloß, dein Junge verkleidet sich dieses Halloween als Clown?«, fragte Bettina.
»Nein, tut er nicht. Du weißt doch …«
»Vielleicht wäre es eine gute Therapie?«
»Das hat schon nicht geklappt, als ich mich als Klinikclown beworben habe. Hat ihn nur noch mehr verstört, seine Mutter im Clownskostüm zu sehen.«
»Woher hast du die Maske denn?«, fragte die Kollegin.
»Tja, das war so«, begann Vanessa zu erzählen.
»Hey, dein Typ ist verlangt!«
Marcel blickte von seinem Schreibtisch auf. Sein Kollege machte eine auffordernde Kopfbewegung und verschwand wieder. Die Bürotür ließ er offen stehen, in der Erwartung, dass er ihm folgte.
Widerwillig erhob er sich von seinem Platz. Sein Chef hatte gesagt, er solle den Zeitungsartikel beenden, bevor er nach Hause fuhr und jetzt störte ihn ausgerechnet sein nerviger Kollege Kalle.
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