Das gelbe Schild am Straßenrand zeigte, dass es noch zwei Kilometer bis zur nächsten Ortschaft waren. Vanessa drosselte das Tempo, damit sie die Einfahrt nicht verpasste. Sie musste zuerst in einen Ort mit gerade einmal 100 Einwohnern. Dieser war über einen Schleichweg durch den Wald erreichbar, damit sparte sie viel Zeit und Benzin.
Der Wagen begann rhythmisch auf und ab zu springen, als er die asphaltierte Straße verließ. Nur wenige hundert Meter später kam sie am Ende des Ortes an und bog auf das nicht viel angenehmere Kopfsteinpflaster des noch immer schlafenden Dorfes.
Umso mehr erschreckte sie die Gestalt nur zwei Meter neben ihr auf der Beifahrerseite. Mit Wucht riss sie das Lenkrad herum und stieg auf die Bremse. Der Wagen schlidderte über das gefallene Laub, das der Nebel in modrigen Sud verwandelt hatte.
Erst Meter weiter blieb der Wagen mit einem heftigen Ruck stehen. Sie konnte die Postpakete im Laderaum förmlich fliegen hören. All die tetriskundigen Handgriffe waren umsonst gewesen. Ihr Herz wummerte ihr bis zum Hals und sie war sich nicht sicher, ob es vom Adrenalinstoß oder ihrer Wut herrührte.
Nachdem der erste Schock überwunden war, öffnete sie die Fahrertür und ging eiligen Schrittes um den Wagen herum. Die Gestalt stand regungslos am Waldrand, womöglich selbst unter Schock. Mit kundigem Blick kontrollierte sie, ob von der Person irgendeine Gefahr ausging. Bis auf eine eigenartige Kostümierung war nichts festzustellen.
Sie starrte auf die weiße Maske mit der roten Nase. Rasch griff sie der Person, die ihr gerademal bis zur Brust ging, an die Schulter und riss ihr mit der anderen Hand die rote zottelige Perücke vom Kopf. Mit ihr löste sich auch die Maske und Vanessa erkannte, wer sich dahinter verbarg.
Der elfjährige Junge sah sie aus seinen braunen Augen an wie ein Rehkitz, das in den nahenden Autoscheinwerfer sah.
»Was zum Teufel machst du hier?«
»Ich … ich … hab’ … ähm«, sagte er.
»Was hast du? Musst du nicht in die Schule?«
»Ich … ich hab’ die … die erste Stunde frei.«
»Und da dachtest du, du ziehst ein Kostüm an und rennst auf der Straße rum? Ich hätte dich fast überfahren!«
Vanessa schrie und war selbst darüber verwundert, dass sie so aus der Haut fuhr. Es musste am Adrenalin liegen. Sonst war sie nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. Wahrscheinlich lag es nicht an dem Fakt, dass dieser Junge auf die Straße gerannt war, sondern an der Verkleidung in ihrer Hand.
Der Junge ließ den Kopf hängen und versuchte sich aus ihrem Griff zu befreien. Vanessa ließ ihn los, zog aber die Maske zurück, als er danach griff.
»Pass jetzt genau auf, Tom! Das hier ist kein Scherz. Du weißt das. Das hier ist purer Ernst.«
»Sagen Sie nichts meinen Eltern«, sagte er panisch.
»Das sollte deine geringste Sorge sein.« Sie schüttelte den Kopf und versuchte, ihrer Stimme Herr zu werden. »Du kannst froh sein, dass ich gebremst habe. Und dass ich keiner bin, der kleine Jungs für ihre makabren Scherze verprügelt. Andere Leute würden das machen, wenn sie glauben, du könntest ihnen etwas tun.«
Tom schluckte einmal trocken, dann sah er wieder zu Boden.
»Ich wollte niemandem etwas tun.«
»Das glaube ich dir.« Vanessa legte ihm mütterlich eine Hand auf die Schulter. »Geh zur Schule und ich verrate niemandem, was du getan hast! Einverstanden?«
»Und meine Maske?«
»Die behalt ich. Und du versprichst mir, dass du solch ein Kostüm nie wieder anziehst!«
Vanessa betonte die letzten Worte ihres Satzes. Er nickte widerwillig und rannte dann in Richtung Haltestelle. Sie konnte leicht kontrollieren, ob er auch wirklich den Bus nahm. Wenn sie bei Hausnummer 8 der einzigen Straße im Ort angelangt war, fuhr er für gewöhnlich ab.
Vanessa stieg in den gelben Lieferwagen mit den roten und schwarzen Buchstaben und atmete einmal tief durch. Dann gab sie Gas und hielt nur wenige Meter später vor dem ersten Haus. Ein Blick in das Innere des Wagens offenbarte ihre Vorahnung: Alle Pakete waren durcheinander geraten.
Es war ihre eigene Schuld, immerhin hatte sie aus praktischen Gründen entschieden sie zu stapeln. Das war für gewöhnlich untersagt, aber wer hielt sich schon an alle Vorschriften? Sie hatte keine Zeit neu zu sortieren, das Stapeln dauerte allein über eine halbe Stunde.
Einige Minuten später überquerte sie die Straße mit einem Paket für Frau Wagner, die bereits die Tür öffnete. Ohne Begrüßung begann die Frau in der geblümten Schürze zu plaudern.
»Haben Sie schon etwas von dem Jungen gehört?«
»Was? Welcher Junge?«, fragte Vanessa vorsichtig.
Hatte sich Tom etwa erwischen lassen? Konnte die Information so schnell bis zu Frau Wagner gelangt sein? Als Postbotin bekam Vanessa schnell jedes beliebige Gerücht innerhalb von 24 Stunden zu Gehör, aber nur wenige Minuten waren zu schnell.
»Ich mache mir solche Sorgen. Eine Leiche zu finden, das muss so schrecklich sein. Ich habe gehört, er geht nicht mehr zur Schule.«
Sie redete von Benjamin Lindner.
»Das stimmt nicht ganz. Er ist seit dieser Woche wieder in der Schule.«
»Und da sind sie sich sicher?«
»Ja. Mein Sohn hat es mir bestätigt.«
Frau Wagner schüttelte betrübt den Kopf, während Vanessa den Strichcode scannte und das Display vor sich hielt.
»Oh, da brauche ich meine Lesebrille«, sagte die Kundin mit den grauen Haaren und verschwand für einige Sekunden in der angrenzenden Küche.
Die Postbotin seufzte und las sich den Segensspruch am Türrahmen durch, bis die Frau zurückkehrte. »Ein fröhlich Herz und friedlich Haus, machen das Glück des Lebens aus.« Sie lächelte, als Frau Wagner umständlich die Brille aufsetzte und mit zittrigen Händen den Stift in die Hand nahm.
»Weiß man schon, wer den jungen Meichsner getötet hat?«
»Nein. Leider nicht«, sagte Vanessa.
»Aber ihr Mann ist doch Journalist.«
»Ja, das ist er.« Sie steckte den Scanner wieder in die Gürteltasche. »Aber er schreibt ja nicht jeden Artikel im Tagesblatt.«
»Aber er hat von dem Mord an dem armen Jungen geschrieben«, sagte die alte Dame.
»Das ist wahr, Frau Wagner. Und ich würde wirklich gern mit ihnen darüber plaudern, aber ich muss leider weiter.«
»Oh, das tut mir leid. Natürlich, meine Liebe.« Sie schob ihre Brille hoch. »Aber warten Sie! Ich hab’ da noch was für den Kleinen.«
Frau Wagner ging einige Schritte zurück in die Küche und öffnete eine Schublade. Vanessa wagte einen Blick auf ihre Armbanduhr und begann das Gewicht von einem auf den anderen Fuß zu verlagern. Es dauerte knapp eine Minute, bis die Frau wieder im Türrahmen stand.
Sie reichte der Postbotin einen Beutel vollgefüllt mit Süßigkeiten.
»Das darf ich nicht annehmen.«
»Das ist auch nicht für Sie, sondern für Ihren Sohn.«
»Danke.«
Vanessa nahm das Geschenk widerwillig entgegen. Sie würde es einfach in die Küche der Poststation legen, damit sich ihre Kolleginnen bedienen konnten. Robert schmeckten Pfefferminzbonbons nicht. Mit einem Nicken verabschiedete sie sich und ging zurück zum Postauto.
Erst dort sah sie den Brief, der im Beutel lag. Als Empfänger stand »Herr Wohlfarth« auf dem Umschlag. Vanessa seufzte erneut. Dieser Tag wurde immer länger. Sie fuhr die restlichen Häuser ab und kam rechtzeitig an der Bushaltestelle vorbei.
Tom sah sie jedoch nicht. Ob er gebummelt hatte? Seinen Schulranzen hatte er auf jeden Fall nicht dabei gehabt bei ihrem Aufeinandertreffen. Vielleicht hatte sie ihn so sehr verschreckt, dass er nun vollkommen verängstigt Zuhause saß und weinte?
Bevor sie in die Poststation zurückkehrte, machte sie einen Umweg zur einzigen Kneipe im Umkreis. Widererwarten war geöffnet. Sie betrat das Lokal und sah bereits den Männerstammtisch im hinteren Bereich. Mit einem Nicken lief sie zur Theke und legte Frau Wagners Brief darauf.
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