Als er aber hinaus auf den Flur trat, schickte ihn die Sekretärin direkt weiter in Richtung des Chefbüros. Was konnte so wichtig sein, dass er umgehend zum Boss musste? Die Redaktionssitzung hatte doch bereits stattgefunden.
»Komm rein!«, forderte ihn sein Chef auf, nachdem er einmal geklopft hatte.
Ohne Umschweife kam er zur Sache.
»In deinem Heimatort kehrt auch nie Ruhe ein.« Norbert schüttelte belustigt den Kopf. »Polizeieinsatz am Kirchweg. Find raus, was da vorgefallen ist!«
»Wir haben keinen Anruf von der Polizei erhalten?«
»Nein. Aber ich habe anderweitige Informationen. Die entscheidenden findest du jetzt heraus.«
»Warum ich?«
Norbert runzelte die Stirn.
»Weil du den Kommissar bereits kennst. Hook, wenn ich mich nicht irre. Und immerhin ist der Einsatz offenbar direkt am Pfarrhaus. Sieht schwer danach aus, dass es was mit dem toten Pfarrersjungen zu tun hat.«
»Wilhelm«, sagte Marcel kleinlaut.
»Richtig. Find heraus, ob bei der Familie irgendwas abgeht. Oder was wir sonst daraus machen können!«
Marcel sah seinen Chef ausdruckslos an.
»Alles klar.«
»Guter Junge.«
Er verließ das Büro und schüttelte den Kopf. Die Sekretärin lächelte ihn aufmunternd an, dann tippte sie weiter auf ihrer Tastatur herum. Marcel lief zu seinem Privatwagen und machte sich auf den Weg zum Pfarrhaus seines Wohnortes.
Seine Gedanken kreisten um den Pfarrer Uwe Meichsner. Vor ziemlich genau einer Woche hatte er seinen Sohn verloren. Er selbst hatte den Leichnam des Jungen gesehen, als er den Kommissar interviewt hatte. Es war schrecklich gewesen.
Wilhelm war mit seinem Sohn Robert gemeinsam ans Gymnasium gegangen. Sie kannten sich von diversen Freizeiten. Marcel hoffte inständig, dass der Pfarrersfamilie nichts passiert war.
Schon von weitem konnte man die Polizeikolonne sehen. Marcel parkte seinen Wagen zwei Straßen entfernt. Die Kirche stand mitten im Dorfzentrum. Wenn man das so nennen konnte. Er verstaute Kamera, Notizblock und Stift und lief mit seiner Umhängetasche bewaffnet am Friseur, Bäcker und Discounter vorbei.
Als er bei den beiden Polizeibeamten angelangt war, die hinter einem Absperrband standen, öffnete er den Mund, um die Männer zu begrüßen. Prompt trat einer der Männer mit erhobener Hand auf ihn zu und kam ihm zuvor.
»Kein Zutritt «
»Ich muss aber zur Kirche«, sagte Marcel unschuldig.
»Hier ist im Moment kein Durchkommen.«
»Warum?«
»Das können wir Ihnen leider nicht sagen«, antwortete der andere Polizist.
»Aha, gut. Dann möchte ich gern direkt mit Kommissar Hook sprechen.«
Die Männer warfen sich vielsagende Blicke zu und schauten Marcel dann argwöhnisch an.
»Kann ich Kommissar Hook sprechen?«, wiederholte Marcel sein Anliegen. »Geht es um den Mord von vor einer Woche?«
»Darüber können wir Ihnen nichts sagen.«
»Gut. Dann …«, Marcel überwand den letzten Meter zum Absperrband und flüsterte weiter: »… lassen Sie mich entweder durch und Herr Hook gibt mir ein aussagekräftiges Interview. Oder ich denke mir eine Story aus und in der wird der Pfarrer mit Sicherheit schlecht wegkommen. Wer weiß, vielleicht ist er bereits tot?«
»Das ist er nicht«, sagte der zweite Polizist entrüstet und erntete einen tadelnden Blick seines Kollegen.
Marcel stand mit hochgezogenen Augenbrauen vor den Beamten und wartete auf eine Reaktion. Ihm selbst war die Situation ebenso unangenehm. Natürlich würde er sich keine abstruse Geschichte über den Dorfpfarrer zusammenreimen.
Immerhin war sein Sohn gestorben und seine eigene Frau war mit der Familie befreundet. Um Gottes Willen: Sie würden ihm mitunter am Sonntag im Gottesdienst begegnen. Keine Vorstellung, was geschehen würde, wenn er einen solchen Artikel veröffentlichen würde. Außer natürlich es entsprach der Wahrheit.
»Holen Sie schon den Inspektor!«, ordnete der eine Polizist an.
»Jawohl!«
Der zweite Polizist verschwand, während der andere Marcel griesgrämig anstarrte. Ihm lief ein Schauer über den Rücken. Er musste Norbert etwas bieten, sonst würde sein Chef ihm den Hals umdrehen. Immerhin wurden immer mehr Stellen gestrichen. Marcel musste sich mit ihm gut Freund stellen.
Nach endlosen Minuten kam der Polizist mit einem rothaarigen Mann im Schlepptau zurück. Die Augen rollend trat er an das Absperrband.
»Sie schon wieder. Wer hätte das gedacht?«
»Die Stellen in unserer Redaktion sind rar besetzt. Da muss ich öfters herhalten. Was gibt es denn wieder Schönes?«
»Schönes, he?« Der Kriminalbeamte lachte bitter auf. »Eine Leiche.«
Obwohl Marcel bereits mit dem Schlimmsten gerechnet hatte, konnte er seinen Schock nicht verhehlen.
»Kenne ich den Toten?«
»Woher soll ich das wissen? Hier auf dem Dorf kennt sich doch jeder.«
»Nicht der Pfarrer.« Marcel linste zu dem Polizisten hinter Herrn Hook hinüber.
»Nein. Laut mitgeführter Personalien handelt es sich um einen Mann, wohnhaft in Neustadt. Der Mörder hat sich keine Mühe gegeben, die Identität des Opfers zu verschleiern.«
»Mörder?«
Herr Hook hielt in seinen Ausführungen inne, seine Augen verengten sich.
»Sie haben über den Mord an dem Jungen berichtet.«
»Wilhelm.«
»Sie schienen ihn persönlich zu kennen.«
»War das so offensichtlich?«
»Kann auch sein, dass Sie nur in den Busch gekotzt haben, weil Sie zum ersten Mal eine Leiche gesehen haben.«
Marcel erinnerte sich zurück. Norbert hatte ihm nicht gesagt, worum es ging. Nur dass ein Fußgänger eine interessante Entdeckung gemacht hatte. Er hatte an einen entflogenen Wellensittich gedacht, oder an ein Baumhaus aus zehn Billy Regalen gezimmert.
Dass drei Polizeiwagen auf ihn warten würden, und man ihm kurze Zeit später den Freund seines Sohns tot hinter einer Tanne zeigen würde, damit hätte er im Leben nicht gerechnet.
Er hatte ihn erst am Sonntag noch im Gottesdienst gesehen. Als er seiner Frau davon erzählt hatte, war sie in Tränen ausgebrochen.
»Sie hätten meinem Kollegen fast auf die Schuhe gekotzt.«
»Er hat wirklich eine ausgezeichnete Reaktionsfähigkeit.«
Über Kommissar Hooks Gesicht huschte der Anschein eines Lächelns. Doch so schnell es gekommen war, verschwand es auch wieder. Marcel wartete auf eine Erwiderung.
»Okay. Vielleicht können Sie mir helfen.«
»Wobei?«
»Kommen Sie mit!«
Herr Hook lüftete das Absperrband und Marcel lief darunter durch.
»Die Kamera bleibt aus!«
»Klar.«
Marcel zog seine Hand aus der Tasche und griff stattdessen nach Block und Stift in der Seitentasche. Er folgte dem Kommissar den Weg hinauf bis zur Kirche und dem gegenübergelegenen Pfarrhaus.
»Der Pfarrer öffnet nicht die Tür.«
»Vielleicht ist er nicht Zuhause?«
»Doch. Es ist eher so, dass er sich weigert, die Tür zu öffnen.«
»Ist es ihm zu verübeln? Was wollen Sie von ihm?«
»Wir müssen ihn befragen. Außerdem müssen wir die Überwachungskamera konfiszieren. Eventuell hat sie den Mörder aufgenommen.«
Herr Hook deutete mit dem Zeigefinger auf die entsprechende Kamera direkt an der Kirchenwand. Marcel nickte verständig, wunderte sich aber eher darüber, dass die Gemeinde an dieses denkmalgeschützte Gebäude irgendetwas anbauen durfte.
Der Blick durch den Holzzaun brachte ihm ein Déjà-vu-Erlebnis ein. Zwei Polizisten standen neben einer Bahre, über die ein weißes Tuch lag. Er war insgeheim dankbar, dass er nicht noch einmal in den scheußlichen Genuss kam, eine Leiche sehen zu müssen.
Die beiden Beamten hoben die Bahre an und trugen sie zum bereitgestellten Leichenwagen. Neben diesem stand eine Frau mit langen blonden Haaren. Sie war Verkäuferin im hiesigen Discounter. Wahrscheinlich war sie auf ihrem Arbeitsweg hier vorbeigekommen und hatte die Leiche gefunden. Der Beamte neben ihr notierte fleißig, was sie sagte.
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