»Wer ist der Tote?«
Kommissar Hook folgte Marcels Blick.
»Heinrich Steinert. 34 Jahre alt. Die Personalien werden gerade überprüft. Mehr kann ich noch nicht sagen, außer seinem Wohnort. Neustadt, wie gesagt. Falls Sie noch seine Körpergröße wissen wollen?«
Marcel notierte eifrig alle Informationen. Als Journalist hatte er sich angewöhnt, auch im Gehen mehr oder weniger leserlich zu schreiben. Erst als er den Ort notiert hatte, bemerkte er die letzte Frage. Irritiert sah er auf und sah in Hooks erwartungsvolle Miene.
»Nur ein Witz.«
Marcel grinste überschwänglich.
»Ist die Todesursache schon bekannt?«
»Er wurde augenscheinlich erwürgt. Aber bevor die Autopsie nicht durch ist, würde ich diese Information ungern herausgeben.«
Sie waren am Pfarrhaus angelangt und blieben stehen.
»Einverstanden.«
»Die Todesursache bleibt unter uns! Verstanden?«, wiederholte Kommissar Hook.
»Ja.«
»Nicht dass es läuft, wie bei dem Leichenfund.«
»Was meinen Sie?«
»Sie haben den Namen des Finders genannt.«
»Den Nachnamen haben wir nicht genannt. Da bin ich mir sicher.«
»Und dennoch haben die Eltern des Jungen mich ganz aufgeregt angerufen und sich beschwert. Es gibt offenbar nicht viele Jugendliche mit dem Namen Benjamin in diesem Ort.«
»Das konnte ich nicht wissen«, wehrte sich Marcel gegen diese unverfrorene Anschuldigung.
»Mir ist das egal. Aber ihr Image könnte es schädigen.«
Herr Hook zuckte mit den Achseln und drückte die Hausklingel. Ohne eine Reaktion abzuwarten, begann er an die Tür zu hämmern.
»Polizei. Machen Sie auf!«
Marcel beobachtete das Schauspiel eine Weile lang. Sein Blick ging von einem Fenster zum anderen. Keine Reaktion zu sehen. Dann zückte er sein Smartphone. Innerhalb von wenigen Sekunden hatte er die private Nummer des Pfarrers gewählt. Es klingelte ungewöhnlich lang, dann nahm Pfarrer Meichsner ab.
»Ja? Hallo?«
»Hallo, Uwe. Sag mal: Bist du Zuhause?« Keine Antwort. »Ich steh vor deiner Tür. Kannst du mich reinlassen?«
Eine lange Pause entstand. Marcel sah in die erwartungsvollen Augen des Kommissars. Gerade als er dachte, der Pfarrer würde auflegen, vernahm er eine gebrochene Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Ich will keine Polizei mehr in meinem Haus.«
»Alles klar«, reagierte Marcel prompt, »Die Polizei bleibt draußen. Ich komm allein rein.«
Herr Hook schüttelte vehement mit dem Kopf und machte Anstalten ihm das Telefon wegzunehmen. Ein Klicken bedeutete ihm, dass der Pfarrer aufgelegt hatte. Wenige Augenblicke später wurde der Schlüssel im Schloss herumgedreht und die massive Holztür aus dem 18. Jahrhundert öffnete sich einen Spalt.
»Bin gleich zurück«, sagte Marcel und stieg behutsam die Stufen hinauf. Langsam öffnete er die Tür und stand vor seinem Pfarrer.
Seine Familie hatte dem Pfarrerspaar, genauso wie andere Haushalte des Ortes, ihre Anteilnahme in Form einer Karte ausgedrückt. Persönlich waren sie noch nicht hier gewesen. Sein Sohn redete seit Wilhelms Tod überhaupt nicht über den Pfarrer und war auch nicht zum Gottesdienst gekommen.
Und auf einen Besuch hatten sie verzichtet. »Er weiß, wie schrecklich der Tod seines Sohns ist. Das brauchen wir ihm nicht auch noch sagen«, hatte seine Frau argumentiert. Und er vertraute seiner Frau in solchen Belangen. Immerhin war sie diejenige von ihnen mit der sozialen Ader.
Der Anblick, der sich ihm nun bot, zeigte ihm, dass es gut so gewesen war. Uwe war ein Wrack. Ein Autowrack, das seit Jahren auf dem Schrottplatz verrostet, vergessen von Besitzer und Entsorger.
Seine Tränensäcke lagen wie Schluchten unter seinen Augen, die Ränder waren gerötet. Eingesackt stand er vor ihm, schniefte kurz und ging dann zur Seite. Die letzte Höflichkeit zeigte sich in einer angedeuteten einladenden Geste mit der Hand.
Marcel betrat den Flur des Pfarrhauses. Die Tür schloss sich und Herr Hook blieb verdattert draußen stehen. Der Journalist versuchte sich an einem Lächeln, das vom Pfarrer nicht erwidert wurde. Ihm lag ein Spruch nach dem Motto »Wie geht es dir?« auf den Lippen, doch er erinnerte sich an die Worte seiner Frau.
Jeder weiß, wie es ihm geht. Er hat seinen Sohn verloren.
Schweigend ging der Pfarrer in die angrenzende Küche und setzte sich an den Tisch. Marcel folgte ihm unaufgefordert. Als sie wortlos gegenüber saßen, wagte er es nicht, dem Pfarrer weiter in die Augen zu sehen. Zu unangenehm war ihm die Situation.
»Wie geht es deinem Sohn?«, krächzte der alte Mann.
»Gut. Er ist gerade in der Schule.«
Der Pfarrer nickte nur. Eine lange Pause entstand. Marcel konnte seinen eigenen Herzschlag wahrnehmen und dachte unweigerlich, sein Gegenüber könne es genauso hören. Er wagte einen scheuen Blick, doch Uwe blickte an ihm vorbei ins Nichts.
Plötzlich verzogen sich seine Mundwinkel und ein Schluchzen entwand sich seiner Kehle.
»Ich halt es nicht mehr aus«, brach es aus ihm heraus.
Marcel schwieg.
»Immer wieder kommen Leute. Sie meinen es gut, aber … es ist so schrecklich.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, meinen Sohn zu verlieren«, sagte Marcel vorsichtig.
Ein trauriges Lächeln huschte über Uwes Gesicht.
»Meine Frau ist zu ihren Eltern gefahren. Sie brauchte Abstand.« Der Pfarrer kratzte gedankenverloren mit dem Daumen über den Holztisch.
Marcel würde seiner Frau später danken, dass sie ihn davor abgehalten hatte, persönlich zum Pfarrhaus zu gehen und die Karte abzugeben. Dieses Gespräch fiel ihm jetzt schon unsagbar schwer. Doch er musste es durchhalten. Allein für die Information für Herrn Hook.
»Was wollen diese Männer?«
»Die Polizisten?«
Der Blick des Pfarrers hob sich wieder. Müde blickte er Marcel direkt in die Augen. Er nahm allen Mut zusammen, um ihm die Wahrheit zu sagen.
»Auf dem Kirchplatz wurde jemand ermordet. Ein Mann Mitte 30.« Er blickte auf seinen Notizzettel. »Herr Heinrich Steinert. Kennst du den Mann?«
Ausdruckslos schüttelte Uwe den Kopf.
»Er wurde erwürgt.« Ihm fiel auf, dass er diese Information noch nicht veröffentlichen sollte, doch Herr Hook hatte nur von der Zeitung geredet, so war er sich sicher. »Genau gegenüber der Überwachungskamera. Die Polizisten wollen die Aufnahmen haben, als Beweismittel.«
Uwe nickte geistesabwesend. Marcel wartete auf eine Reaktion, doch hatte das Gefühl, dass der Pfarrer in Gedanken weit weg war. Die Sekunden verstrichen.
Er hörte die Wanduhr über der Tür ticken, den Wind am Fenster zerren und die Vögel vor der Tür zwitschern.
Als der Pfarrer wieder das Wort ergriff, erschrak er sich geradezu.
»Warum passiert unserer Gemeinde das alles?«
Vollkommen überrumpelt durch diese Frage, wusste Marcel keine Antwort. War es etwa eine rhetorische Frage? Automatisch wiederholte er die Frage bloß.
»Warum uns das passiert?«
»Ja. Warum lässt Gott das zu? Ich meine … warum ermordet jemand meinen Sohn? Und dann, dann ermordet er noch jemanden, direkt neben unserem Haus?«
»Du gehst davon aus, dass es derselbe war?«
»Etwa nicht?«
Marcel hob abwehrend beide Hände. »Keine Ahnung. Ich dachte nur. Es muss nicht derselbe sein.«
Noch während er sprach, wurde ihm bewusst, dass sie in einem kleinen verschlafenen Örtchen lebten. Wer hier wohnte oder sich hier aufhielt, hatte einen Grund. Dieser Mann, Herr Steinert, war kilometerweit hierher gefahren, um ermordet zu werden. Niemand kannte ihn. Wer war dieser Mann? Und konnte es wirklich ein Zufall sein, dass sich ein zweiter Mord im Umfeld des Pfarrers ereignete? Marcels Familie war christlich geprägt und er hatte nie an Schicksal geglaubt. Also handelte es sich hierbei entweder um göttliche Fügung oder da draußen lief ein vollkommen kranker Bastard herum, der dieser Familie schaden wollte.
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