Ein bestrickender, An schroffen Gegensätzen reicherer Anblick lässt sich kaum denken. So rankt sich die farbenprächtige Liane mit ihren duftenden Zweigen an der hoch gewachsenen Palme empor. Die breite Hand des Seemannes, welche die reizende Gestalt an sich zog, glich der Tatze eines Bären, die etwa einen zierlichen Veilchenstrauß umklammert hält. Mir Ward beim Anblick dieses hier nur flüchtig skizzierten Bildes ganz sonderbar zu Mute. Ich zögerte absichtlich mit weiteren Fragen, um mir das fesselnde Schauspiel nicht selbst zu kürzen. Aus den verschiedenartigsten Betrachtungen, die wie leuchtede Meteore pfeilschnell an mir vorüber zogen, erwuchs mir die erhebende Gewissheit, dass es ein göttliches Etwas gebe, das die sprachlichen Unterschiede zwischen allen Völkern der Erde aufhebt, das die Empfindung jedes Menschenherzen unausgesprochen erklärt. Hatte diese hoheitsvolle Idee jene unschuldsvollen, kaum erblühten Hindumädchen bestimmt, sich dem unbekannten Schicksal der fremden Männer anzuschließen?
Der ganze, bald genug gekannt werdende Vorgang entbehrte nicht eines romanhaften Hintergrundes. Unsere beiden englischen Matrosen, welche die Leichenverbrennung vom Deck aus beobachtet hatten und kurz vor Abgang des Schiffes der geheiligten Stätte näher als bisher gekommen waren, hatten die beiden trauernden Mädchen bemerkt, wie sie weinend in die Flammen blickten, welche die Überreste teurer Angehöriger, vielleicht die eigenen Eltern, in Asche verwandelten. Von tiefem Mitleid ergriffen, wie es gerade der raue Seefahrer oft empfindet, und das ihn leichter als den kühl denkenden Landbewohner fortreißt, hatten die beiden Engländer sich jenen schicksalsgeprüfen Hindumädchen genähert und ihnen die Hände zum Zeichen der Teilnahme entgegen gestreckt. Einen Moment nur hatten deren tiefe wundervolle Blicke auf den beiden Unbekannten Männern geruht, dann war ihr Entschluss gefasst, denselben willenlos zu folgen.
Anerkennend sei hier das tadellose Benehmen der ganzen Besatzung erwähnt, die doch sicherlich manchen unlauteren Charakter in sich barg. Die beiden Mädchen wurden während der ganzen Fahrt mit einer rührenden Sorgfalt und Aufmerksamkeit behandelt. Kein beleidigender Blick traf die unschuldsvollen, herzigen Geschöpfe, und mancher Gegenstand, nach dem sich die Herzen der Mädchen sehnten, wanderte in ihren Besitz.
Unser Kapitän, dem der Vorfall anfänglich wenig behagte, besaß ein viel zu echtes Seemannsherz, um den Urhebern lange zu grollen. So ereichten denn die Töchter des sagenreichen Indiens, nachdem wir dem Übersegeltwerden im Kanal mit genauer Not entgangen waren, wohlbehalten die die englische Metropole.
Ob sie dort in ihrer neuen Heimat das erträumte Glück gefunden oder gleich den Tausenden ihrer europäischen Schwestern enttäuscht und verraten zu Grunde gegangen sind? Wer kann es wissen?
Im Hafen von London wechselte die WINTERTHUR ihren Besitzer und fuhr von diesem Augenblicke an unter englischer Flagge. Mein kontraktliches Verhältnis mit dem Kapitän wurde dadurch gelöst. Als Passagier eines Dampfschiffes erreichte ich wenige Tage später wieder einmal die wohlbekannten Gestade meiner teuren Heimat. –
Besuch der Navigationsschule in Altona
Mein ungestümer Hang zur Seefahrt hatte durch meine bisherige seemännische Tätigkeit wohl eine gewisse Befriedigung gefunden, und meine Anschauungen waren jetzt von allem phantastischen Ballast befreit. Klar und deutlich lag mein Lebensweg vor mir. Es bedurfte nicht des väterlichen Ausspruchs: Junge sei vernünftig! Was man sein will, muss man ganz sein! Nur zu klar hatte ich bereits erkannt, dass es unmöglich sei, ohne wissenschaftliches Studium das mir gesteckte Ziel zu erreichen. Die physische Kraft, die tüchtigste Praxis ist der durch Forschertrieb immer mehr ausgebildeten Theorie unterstellt und nur, wo sie beide Hand in Hand gehen, ist ein gedeihliches Wirken möglich.
Als Reeder würde ich mein Schiff niemals einem Kapitän anvertrauen, der nicht im Stande wäre, auch die unbedeutendsten praktischen Arbeiten an Bord selbst auszuführen. Glücklicherweisen hält ja unsere sich täglich mehr entwickelnde Seemannsausbildung an dieser Grundidee fest. Die segensreichste Ernte wird dieser Aussaat folgen. Sie wird den guten Ruf, den sich der deutsche Seemann vermöge seiner vortrefflichen Charakteranlagen bei allen Schifffahrt treibenden Völkern der Erde langsam und mühevoll erworben, immer mehr befestigen und stärken.
Während eines Jahres besuchte ich nun die Navigationsschule in Altona. Sehr bald gewann ich das anfangs trocken erscheinende Studium lieb. Je weiter sich mein Blick erschloss, desto größer wurde meine Wissbegierde. Übrigens galt es während dieses Zeitraumes sehr vieles zu erlernen, und wenn ich hier die hauptsächlichsten Gegenstände anführe, so geschieht es nur, um dem eingeweihten Leser manches fernere Vorkommnis anschaulicher darstellen zu können. Die unter dem Vorsitz eines höheren dänischen Marineoffiziers gebildete Prüfungskommission begann am 4. Dezember 1855 ihre Examina über:
Kenntnis aller Zirkel, die man sich auf der Himmelskugel denkt; von der eigenen Bewegung des Mondes und der Planeten, von dem Zusammenhange zwischen der Uhrzeit und der Länge auf der Erde; von der wahren Sonnenzeit, Mittelzeit und der Zeitgleichung; von der Einrichtung des Nautical-Almanachs und der Planet-Tabellen. Vollständige Kenntnis der Art und Weise, wie der Sextant zu untersuchen und zu berichtigen ist und Fertigkeit, mit demselben Winkel zwischen zwei Gegenständen zu messen. Kenntnis der wichtigsten Sternbilder und Fähigkeit, die zu den Distanz-Observationen dienlichen Sterne am Himmel zu finden. Die Höhe eines Himmelskörpers zu einer gegebenen Zeit zu berechnen. Fähigkeit, die Uhrzeit mittelst Höhe der Sonne oder eines Sternes zu berechnen.
Fähigkeit, den Gang der Seeuhr zu untersuchen, sowohl auf dem Lande durch künstlichen Horizont, als auf einer Reise durch Peilung von Punkten, deren Länge genau bestimmt ist; Kenntnis der Behandlung der Seeuhr und durch dieselbe die Uhrzeit in Greenwich zu finden. Fähigkeit, die Uhrzeit in Greenwich aus der gemessenen Distanz zwischen dem Monde und der Sonne oder zwischen dem Monde und einem Sterne oder Planeten zu berechnen, wenn die Höhen zugleich gemessen sind.
Fähigkeit, die Länge und Breite zu finden.
Ich könnte noch weitere hierher gehörende nautische Prüfungsgegenstände aufzählen, aber ich fürchte, vor allem die Geduld des geehrten Lesers zu erschöpfen, und solchen unverzeihlichen „Observationsfehler“ möchte ich gar zu gerne vermeiden.
Wenn sich auch die Nautik seit jener Zeit wesentlich entwickelt und manches aus unserem Systeme verworfen hat, so möge doch kein moderner Seefahrer beim Lesen dieser Zeilen die Nase rümpfen oder mitleidig lächeln. Er darf sich mit der Versicherung begnügen, dass wir schon damals sehr genau jeden Seeweg zu verfolgen im Stande waren, niemals unser Ziel verfehlten und wie der heimatliche Volksmund so verständnisvoll ausdrückt: „Keenen Buern in de Finster loopen sünd.“
Von der Prüfungskommission empfing der Matrose Alfred Tetens sein Steuermannszeugnis mit dem Charakter „Gut bestanden“ in deutscher und dänischer Sprache ausgestellt. Immer deutlicher lag nun mein Lebensweg vor mir. Mein höchster Ehrgeiz, einstmals als Kapitän ein mir anvertrautes Schiff durch die Weltmeere zu führen, erhielt immer neue Nahrung.
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