An Bord herrschte bei einer verhältnismäßig großen Besatzung ein recht reges, meinem Geschmacke zusagendes Leben. Der Umstand, dass unser Kapitän Leute von allen möglichen schifffahrttreibenden Völkern angeworben, was einen vielseitigen sprachlichen Verkehr hervorrief, bot dem für alles Fremdartige besonders entflammten Deutschen einen interessanten Sprachunterricht. Es war durchaus nichts Befremdendes, wenn z.B. der redegewandte Sohn Spaniens seinem holsteinischen Genossen eine lange Geschichte erzählte, von der dieser auch nicht ein Wort verstand, aber doch zum Schlusse der Erzählung auf einen Augenblick die Pfeife im Munde zur Seite schob und mit einem rührenden Ernst entgegnete: „Si, si, da kannst du di up verlaten.“
Nach einigen glücklichen Reisen mit diesem Schiffe erwachte eines Tages die bisher krampfhaft niedergehaltene Sehnsucht nach meinen Eltern zu lebhaft in mir, dass ich London schleunigst verließ und die Überfahrt auf der dänischen Brigg „CORA“ antrat. Auf dieser kurzen, aber heimtückischen Strecke musste ich entsetzliche Qualen erdulden. Unsere Brigg trieb mitten im strengen Winter bei einem rasenden Sturme zwischen Norwegen und England fünf volle Wochen umher. Auf der total durchnässten Kleidung hatte sich eine Eiskruste gebildet, welche die letzte Köperwärme aufzehrte. Bei diesem gänzlichen Mangel an trockenem Zeug, an Handschuhen und Stiefeln wurde mein Zustand ein geradezu verzweiflungsvoller. Andauernde bittere Kälte hatte meine Hände in dunkelblaue Fleischklumpen verwandelt, die bei der geringsten Bewegung namenlose Schmerzen verursachten. – Endlich war die Gewalt des Sturmes gebrochen. Der Kapitän konnte nunmehr den Hafen von Arendal anlaufen. Vierzehn Tage lagen wir hier vor Anker. Als dann das Eis der Ostsee kein allzu großes Hindernis mehr bot, gingen wir abermals unter Segel und erreichten unter anhaltenden Strapazen glücklich Kopenhagen. Der Reeder und alle Angehörigen der Besatzung waren freudig erstaunt, als das verloren geglaubte Schiff in den sicheren Port einlief.
Ohne Rücksicht auf meine äußere Erscheinung zu nehmen, wollte ich meine hier ansässigen Verwandten besuchen. Mein Herz sehnte sich nach teilnahmsvollen Menschen. Vor der palastähnlichen Wohnung meines Onkels vergaß ich alle Qual, ein behagliches Etwas zog durch meine Seele. Der vom heftigen Ruck meiner Hand geweckte helle Glockenton drang bis in meine kleine Zehe. Langsam und feierlich wurde das imposante Tor geöffnet. Aber kaum hatte der bunt geschmückte Diener die zerlumpte, zerfetzte Jammergestalt erblickt, da fuhr die majestätische Pforte so rasch ins Schloss zurück, dass ich einen Moment für meine Nasenspitze fürchten musste.
Sollte ich auf diese Weise von meinen Verwandten scheiden? Eine kurze Überlegung verneinte. Ich setzte also den Glockenzug nochmals in heftige Bewegung. Dieses Mal erschien ein weibliches, somit viel liebenswürdigeres Wesen, das mich wenigstens auf den Vorplatz führte und mein Anliegen im nächsten Zimmer meldete. Die halb geöffnete Tür gab mir Gelegenheit, die jetzt beginnende Unterhaltung zu vernehmen.
„Was sagst du? Der zerlumpte Matrose wäre mein Onkel? gab meine Tante zurück. – „Jawohl Madame, er hat es selbst gesagt.“ – „Dann führe meinen Onkel herein“, rief lachend die Dame, jetzt den Zusammenhang erkennend.
Ohne diese Aufforderung abzuwarten, stürzte ich in die Arme meiner hocherfreuten Tante. Das Mädchen hatte von meiner deutschen Anfrage nur das Wort ‚Onkel’ verstanden.
Nachdem das so entstandene qui pro quo herzlich belacht, erhielt ich alles, was mir wieder zu einem menschenwürdigen Aussehen verhalf.
Noch am selbigen Tage eilte ich meiner Heimat entgegen. Die letzte Strecke konnte nur im Postwagen zurückgelegt werden. Trotz meiner körperlichen Schmerzen vermochte ich meine Ungeduld kaum zu zügeln, und als ich das Heimatstädtchen, wo meine Eltern und all’ meine Lieben weilten, aus der Niederung empor tauchen sah, da verließ ich mit einem kühnen Satze das viel zu langsame Gefährt und stürzte Freude jauchzend in die Arme meiner mir entgegen eilenden Eltern und Geschwister. Ach, könnte ich die Freude des Wiedersehens, den Jubel im elterlichen Hause nur annähernd schildern! Der Leser würde mir dann sicherlich glauben, dass es für einen Seemann nichts Herrlicheres gibt, als zum ersten Mal nach einer mehrjährigen Reise zurückzukehren. Er, der als unerfahrener Bursche, oft nur einer Regung folgend, planlos hinausstürmte, hat jetzt seine Schwingen im ersten Fluge erprobt. Sein ganzes Wesen ist geläutert, er betrachtet das Leben mit ersteren Augen.
Meine körperlichen Schmerzen waren bald unter der sorgsamen Pflege meiner Mutter verschwunden. Eine so rasche Heilung meiner zahlreichen Wunden konnte auch nur einer liebenden Mutter gelingen. Die Erinnerung an den ersten elterlichen Empfang gehört zu den schönsten meines Lebens. Die monatelange Ruhezeit zu Hause flog mir wie ein kurzer Traum dahin.
Zweite Reise 1853 auf Dreimaster WINTERTHUR
Ich ward erst dann wieder in die nüchterne Wirklichkeit versetzt, als ich aufs Neue Schiffsplanken unter den Füßen fühlte, die Befehle des Kapitäns über Deck schallen hörte. Das war zu Beginn meiner zweiten Reise 1853. Der in Bremerhaven erbaute Dreimaster WINTERTHUR sollte seine erste Fahrt unter Hamburger Flagge machen. Der Abschied von den Lieben wurde unendlich schwer; meine Mutter und Geschwister waren beim Auslaufen des Schiffes anwesend. Während ich verschiedene, meist völlig nutzlose Arbeiten verrichtete, um nur den tränenvollen Blicken der Meinen zu entgehen, klopfte mein Herz so heftig, als wollte es seine Hülle gewaltsam sprengen.
Endlich war der qualvolle Augenblick vorüber. Abschiedsrufe und Kommandos erschallten. Mit einer stolzen Wendung setzte sich unser Schiff langsam in Bewegung und schon nach einer halben Stunde entschwanden die klaren Umrisse des Strandes mit all den uns teuren Personen unseren Blicken. Vom Mast herab sah ich noch lange das flatternde Taschentuch der trauernden Mutter. Nach einer sehr stürmischen Reise erreichten wir den imposanten Hafen von Liverpool, wo die Einnahme einer für Kalkutta bestimmten Salzladung erfolgen sollte. Unsere Arbeit wurde von plötzlichem Gegenbefehl unterbrochen, der uns anwies, das bisher eingeschaufelte Salz wieder zu löschen. Wir wurden hierauf mit Stückgut nach Melbourne bestimmt. Merkwürdigerweise wird die bedeutende Kursveränderung von dem Matrosen kaum beachtet. Seine Gedanken, die bei Beginn der Reise etwa mit Indien sich beschäftigten, machen sich ebenso schnell mit Australien vertraut. In solchen Dingen ist Jan Maat nicht kleinlich. Unsere Besatzung machte hiervon keine Ausnahme, Wind und Wetter waren ja günstig, die Arbeit gering, und die Behandlung erträglich. Mehr verlangt der wahre Seemann nicht.
Die WINTERHUR, Eigentum der Firma Wattenbach, Heiliger & Comp., lag fast segelfertig im Princess Dock. An der erforderlichen Zahl der Schiffsmannschaft fehlten uns nur noch zwei Mann. Zu jener Zeit war die Segelschifffahrt außergewöhnlich stark im Gange, der Mangel an Matrosen recht fühlbar. Unser Kapitän beauftragte mich mit dem Versuch, noch zwei Matrosen für die WINTERTHUR ausfindig zu machen und, wenn möglich, sogleich an Bord zu führen.
Nach vielen vergeblichen Bemühungen kam mir endlich der Zufall zur Hilfe. In einer der zahlreichen Wirtschaften Liverpools, in denen besonders Seeleute verkehrte, entstand unter den zahlreichen Gästen, die allen möglichen Nationen angehörten, eine handgreifliche Auseinandersetzung, die für den wesentlich schwächeren Teil der Streitenden, obwohl er sich tapfer wehrte, ein recht bedenkliches Ende nehmen musste.
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