Nun drängte Klaus endgültig zum Aufbruch. »Komm, Stephan, jetzt ist es genug. Wir müssen zurück. Ich habe heute noch etwas zu erledigen.«
Bereitwillig ließ Stephan sich jetzt seinen blauen Anorak anziehen. Draußen am Auto war er sehr wortkarg geworden. Verunsichert sah er zwischen Klaus und uns hin und her. Im Moment wusste er wohl nicht so recht, wohin er eigentlich gehörte.
Klaus rief uns später noch einmal an. »Unterwegs hat er mir gesagt, dass er eigentlich doch zu klein sei, um ohne Mama und Papa zu sein. Dabei habe ich mich schon gefreut und ihm gesagt, dass wir ja mal sehen könnten, ob wir eine Mama und einen Papa für ihn finden. Ich dachte, das Zusammensein mit euch hätte ihm Lust auf euch gemacht. Hat es mit Sicherheit ja auch. Dann jedoch sagte er, er habe doch schon Eltern, er wolle keine anderen. Damit meinte er natürlich seine Adoptiveltern. Ich denke, dass er sich in einem Loyalitätskonflikt befindet. Die Beschäftigung mit euch wühlt die alten Erinnerungen wieder auf. Deshalb redet er jetzt auch so oft über sie. Vielleicht glaubt er, dass er sie verlässt, wenn er sich jetzt auf euch freut. Wir werden sie noch einmal ins Heim bitten müssen, damit sie ihm persönlich sagen, dass sie ihn nicht mehr wollen, so hart das für ihn zunächst auch sein mag. Aber das wird ihn von seiner Verantwortung befreien, die er vielleicht zu haben glaubt.«
Wir fanden diese Möglichkeit entsetzlich, glaubten Klaus und seiner größeren Erfahrung jedoch. So ganz unlogisch war das ja auch nicht. Aber das arme Kind ...!
Nach diesem ersten gemeinsamen Nachmittag mit Stephan hatten wir gespürt, dass wir nicht mehr die Jüngsten waren. Er hatte uns wirklich keine Minute lang aus seinen Ansprüchen entlassen. Nachdem er fort war, hatten wir alle Viere von uns gestreckt und versucht, uns wieder zu entspannen. Uns wurde bewusst: Da kam ein richtiges Power-Paket auf uns zu!
»Aber die ganz große Hektik wird sich auch wieder legen, wenn er erst einmal für immer hier ist«, beruhigten wir uns gegenseitig. »Jetzt muss er natürlich alles antesten und sehen wie wir reagieren.«
Ein paar Tage später durften wir Stephan im Heim besuchen. In seiner Gruppe empfing er uns zusammen mit einem etwa vierzehnjährigen Mädchen. Sonst war niemand dort. Das Mädchen begleitete uns ins Spieltherapiezimmer, wo Klaus schon auf uns wartete.
Das Tigerspiel begann von neuem.
»Eigenartig«, flüsterte Klaus uns zu. »Bisher war immer er derjenige, der von einem Tiger verfolgt wurde und fliehen musste ...«
Dieses Mal war der Tiger krank, musste sich ständig übergeben. In den Ruhepausen zog er sich in ein Spielzelt zurück, das wir nicht betreten durften. Es war seine Zuflucht, ein Ort, an dem er vor allem Bösen sicher war.
Als er seine 'Krankheit' nicht mehr aushielt, verlangte er nach einer Therapie. »Ihr müsst mich untersuchen und dann mit dieser Salbe einreiben«, wies er uns an und hielt uns dabei eine Cremedose entgegen. Martin spielte den Arzt, begutachtete ihn von allen Seiten und massierte ihm den Bauch mit der Creme. Die Therapie schien anzuschlagen. Dem Tiger ging es wieder besser.
Jetzt wurde Martin aufgefordert, krank zu sein. Da er heute sehr müde war, fiel es ihm nicht schwer, ein krankes, mattes Wesen zu spielen.
»Du musst jetzt auch kotzen.« Stephan hielt ihm eine Brechschale unter den Mund. Offensichtlich gehörte sie ganz selbstverständlich zum Inventar des Therapiezimmers. Hier musste man sich wohl öfter übergeben, alles auskotzen, was bedrückend war. Wie gut Kinder doch mit Symbolik arbeiten können. Man muss die Augen nur geöffnet halten, sie beim Spiel aufmerksam beobachten, um sie zu verstehen.
Martin bemühte sich nach Kräften, würgte so gut er konnte, und Stephan war zufrieden. Er machte Martin nun zu seinem Verbündeten. Jetzt hatten Klaus und ich es mit zwei Tigern zu tun. Stephan war mit seinen Aggressionen nicht mehr allein.
»Habt ihr Tiger Lust, mit mir noch ein bisschen in die Stadt zu fahren?«, fragte ich sie.
Sie hatten und waren schlagartig wieder Menschen.
Uns knurrte der Magen. Wir hatten noch nicht zu Mittag gegessen. Gegen unsere Überzeugung ließen wir uns von Stephan zu Mac Donalds überreden. Pommes und Hamburger sind für die meisten Kinder offenbar unschlagbar. Martin und ich waren gerade dabei, uns auf Vollwertküche umzustellen, besuchten einen entsprechenden Kursus. Aber wir folgten dem Rat der Psychologen, uns vom Kind an die Hand nehmen zu lassen.
Nach dem Essen bummelten wir mit Stephan noch ein wenig durch die Straßen. Bei jedem in der Einkaufspassage aufgestellten Spielgerät mussten wir eine Weile auf ihn warten. Er nahm alles an Vergnügen einfach mit.
Dann gab er plötzlich vor, nun nicht mehr weiterlaufen zu können. Martin musste ihn auf den Arm nehmen. Unvermittelt biss Stephan ihn in die Wange. Diesmal muss es richtig weh getan haben, denn Martin standen die Tränen in den Augen.
»Tat das weh?«, fragte Stephan ihn ohne Gewissensbisse und lachte ihn schadenfroh an.
»Na klar!«, schimpfte Martin - ehrlich entrüstet. »Was hältst du davon, wenn ich das auch bei dir machen würde?«
»Mach doch«, lachte Stephan weiter, drehte aber schnell den Kopf weg, so dass Martins Mund ihn nicht erreichen konnte. Blitzschnell landeten schließlich Stephans Hände an Martins Hals. Er versuchte, ihn zu würgen, so dass Martin nun damit beschäftigt war, sich aus dem Würgegriff zu befreien.
Jetzt wurde es Martin zu arg. Er setzte Stephan wieder auf den Boden zurück. »Du bist mir zu gefährlich. Ich glaube, du kannst doch ganz gut laufen, wenn du mit den Händen so stark bist.«
Auf der Rückfahrt zum Heim landete immer wieder die Kinderüberraschung von Mac Donalds, ein kleines Flugzeug aus Styropor, an Martins Kopf. Das störte ihn nicht weiter, da es sehr leicht war. Aber Stephans Verhalten zeigte uns, dass er damit begonnen hatte, seine Aggressionen bei uns loszuwerden. Damit hatte die Phase der Anpassung insgesamt nicht länger als ein paar Stunden gedauert. Vielleicht war das ganz gut so. Auf diese Weise kamen wir gleich zur Sache.
»Was soll das?«, rief er plötzlich vom Rücksitz des Wagens. Martin und ich schauten uns an. »Was soll das?« Stephan wurde immer lauter. »Was soll das?« Nun schrie er. Sein Gesichtchen lief von der Anstrengung krebsrot an. Dann hörte er plötzlich auf.
»Ihr müsst das auch sagen!«
»Warum sollen wir das auch sagen?« Keine Antwort.
»Ihr müsst das auch sagen!«
Wir wussten zwar nicht, warum das für ihn so wichtig war, aber wir dachten wieder an den Rat der Psychologen. Also riefen wir ebenfalls: »Was soll das?«
Er brüllte weiter mit.
Vor einer roten Ampel mussten wir anhalten. Verstohlen sah ich hinüber zu unserem Nachbarauto. Falls die Leute dort mitbekamen, wie wir uns verhielten, mussten sie uns für völlig verrückt halten. Zum Glück schauten sie stur nach vorn und warteten auf grünes Licht.
Plötzlich sagte Stephan hinter uns leise: »Der Mann in unserer Druppe sagt das immer ganz laut.«
Wir begannen zu verstehen. Damit musste er den Gruppenleiter im Kinderheim meinen. Stephan konnte 'g' und 'k' in Verbindung mit 'r' noch nicht richtig sprechen.
»Schimpft der viel mit dir?«
»Ja, und dann wird er immer ganz laut und ganz böse.«
Wir lernten diesen Mann kurz darauf kennen. Er begrüßte uns recht freundlich, ließ Stephan jedoch bei seinem Eintreffen völlig links liegen, beachtete ihn überhaupt nicht. Stolz wollte er uns durch seine Gruppenräume führen.
Äußerlich sah ja auch wirklich alles recht nett aus. Unermüdlich sprach der Sozialpädagoge von seiner Arbeit, vom Konzept des Hauses, von seinen erzieherischen Grundsätzen und den Gepflogenheiten in der Gruppe. Stephan versuchte er schließlich wegzuschicken, da der nach unserer Aufmerksamkeit verlangte und ihn damit offenbar störte. Mir war das Kind jedoch wichtiger als die Erzählungen des Gruppenleiters. So entzog ich mich dessen Einfluss und kümmerte mich um Stephan.
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