Obscuritas
Ulrike Minge
Copyright: © 2015 Ulrike Minge
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
ISBN 978-3-7375-3301-0
Wie dieses Buch mit seinen Geistern entstand, ist eigentlich nebensächlich.
Nur so viel ist zu berichten, dass es nichts mit Mardern, dunklen Metropolen, kleinen Kratzen und wertvollen Schätzen zu tun hat. Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, sind Bücher, die man in den Händen halten kann, um mit ihnen eine fantastische Reise zu unternehmen, auch Schätze.
Kapitel 1
MARGRET CHOCLAIR
Es gab eine Zeit.
Eine Zeit, in der das Sonnenlicht ganz von der Erde verschwunden war und diese ohne Erbarmen von Finsternis und undurchdringlicher Dunkelheit heimgesucht wurde.
Die Kerze, die auf dem kleinen hölzernen Tisch stand, begann wild mit ihrer Flamme zu flackern, als Margret den Fensterladen öffnete. Ein eisiger Luftzug pfiff in das Zimmer und die Eiseskälte schlüpfte bis in die hinterste Ecke des Raumes. Ein flüchtiger, aber dennoch ungebetener Gast.
Hinter der Dachluke und allen anderen Fenstern herrschte schon seit scheinbar endloser Ewigkeit die Dunkelheit. Sie hatte sich dort draußen ein dichtes Nest gebaut, um sich auf alles zu setzen, wie eine Glucke auf ihre Eier. Margret hatte es nie anders kennen gelernt, noch nie hatte sie Tageslicht gesehen.
Jetzt stand sie hinter dem Fenster und wollte eine oder zwei der weißen Flocken, die vom Himmel fielen in ihr Zimmer locken, das ganz oben unter dem alten knarrenden Dach lag.
Sie mochte die flüchtigen Kristalle, denn wenn sie genau hinhörte und eine Flocke an ihrem Ohr vorbeischwebte, glaubte sie ein leises Wispern zu hören. So, als erzählten sie ihr von unbekannten Geheimnissen aus fernen Welten. Die weißen Sterne schwärmten von Himmelsgeistern, mit denen sie gespielt hatten, von hohen Bergen und bezaubernden Landschaften, über die sie geflogen waren, bevor sie in diese Welt hineinfielen und hinab zur Erde trudelten. Manchmal flüsterten sie von der Königin des Schnees, von der sie über die ganze Welt verteilt worden waren.
Wenn die leichten Daunen dann gen Erdboden schwebten oder von den Launen des pustenden Windes hin und her geschaukelt wurden, saß Margret, wie so oft, vor einem großen Fenster und schaute hinaus in das Treiben.
Seicht und ganz leise setzte sich der Schnee auf das Fensterbrett. Jene Flocken, die nicht so viel Glück hatten, landeten auf dem Fensterglas und verloren von einem Moment auf den anderen ihre bezaubernde Schönheit, geschmolzen zu einer kleinen glitzernden Perle, die bald zu Eis wurde.
Diesmal trudelten so viele von ihnen durch die Luft, dass sich eine dünne, flaumige Schicht auf allem bildete, was nicht rechtzeitig den Weg in das Innere des wohlig warmen Hauses fand. Drinnen brannte immer ein knisterndes Kaminfeuer, das mit seinen orange-gelben Flammen in den Schacht hinein züngelte.
Margret schickte in ihren Gedanken einen Gruß an die Königin des Schnees, die ihr diesen bezaubernden Anblick beschert hatte.
Die flaumige Schicht ließ die ewig herrschende Nacht ein wenig heller erscheinen, als würde ein fremdartiges Glühen von ihr ausgehen, aber Margret wusste, dass es eigentlich nur die Reflektionen der alten Laternen war, die an der Fassade des ehrwürdigen Hauses leuchteten.
Ihr bronzenes Gehäuse hatte eine grüne Patina durch die Witterung angesetzt. Die gläsernen Scheiben der Laternen zeigten sich von ihrer schönsten Seite, besetzt mit kristallenen Eisblumen.
Sie begannen immer zur selben Zeit zu leuchten, um die neue Nachtgleiche zu begrüßen und erloschen wieder, wenn ihre Zeit gekommen war. Zuerst ähnelten sie nur kleinen Glühwürmchen, die in einem Glaskasten vor sich hin flirrten und glimmten, bis ein kräftiger Leuchtkegel von ihnen ausging. Die Laternen bestimmten nun den Verlauf des Lebens. Seitdem die ewige Dunkelheit herrschte, gab es keinen Tag mehr, sondern nur noch die Nachtgleiche.
Margret liebte ihr kleines Refugium, das sie seit ihrem dreizehnten Geburtstag bewohnte, als sie aus der ersten Etage bis unters Dach ziehen durfte.
Ihr großes Bett aus altem, dunklem Holz mit ornamentalen Schnitzereien und verzierten Kugeln an den Bettecken liebte sie am meisten, weswegen es auch den schönsten Platz in diesem Zimmer am Fenster bekommen hatte.
In schlaflosen Zeiten legte sie sich die Kissen so unter den Kopf, dass sie hinauf in die Dunkelheit schauen und ihre Gedanken zu den kleinen funkelnden Lichtern am stets verdunkelten Himmel schweifen lassen konnte.
Neben dem Bett stand ein kleiner Nachtschrank, in dem sie immer ein Buch und andere persönliche Dinge, die ihr lieb und teuer waren, verwahrte. Daneben füllten ein Schreibtisch, ein massiver Kleiderschrank und ein mannshohes Bücherregal mit ihren Lieblingsromanen das Zimmer.
Margret verkroch sich schon als kleines Mädchen gern hinter vollgeschriebenen Bücherseiten und liebte es, immer eines von den Exemplaren, die sie schon gelesen hatte, in ihrem Regal stehen zu haben. Manchmal stand sie gedankenverloren vor ihrer ansehnlichen Sammlung, strich über die samtenen Buchrücken und dachte an all die entlockten Geschichten.
Mit jedem von ihnen teilte sie sich ein Geheimnis.
In ihrem Lieblingsbuch, von einem zu Weilen melancholischen Poeten verfasst, stand ein Vers, den sie immer im Kopf hatte, egal wie sehr sie sich auch manchmal wünschte, in die Welt aus schwarzer Tinte und weißen Papier hineinzuschlüpfen:
„ Bücher sind die Welt, in der wir niemals die Chance haben, leben zu können! Was gut ist, denn sie zeigen einem nicht immer die Wahrheit. Denn hinter jeder phantastischen Geschichte lauert immer die Realität mit gebleckten Zähnen, bereit zum Sprung .“
Wenn sie vor ihrer Bücherwand stand, beschlich sie der Gedanke ebenfalls ein Geheimnis zu sein. Sie war eine Hybride, ein Bruch des Gesetzes, das nicht hätte existieren dürfen.
Ihre Mutter Elisa stammte aus einer Stadt in der Nähe dieses Hauses, doch ihre Vater Arthur war ein Choclair.
Er entstammte der purpurnen Blutlinie der Caesarier, Königswesen, die vor Jahrhunderten auserwählt wurden, das Gleichgewicht der Erde zu wahren. Er war gezeichnet mit einem zarten blassblauen Ornament hinter seinem rechten Ohr, das jedoch nur dann zu sehen war, wenn eine seiner lockigen Haarsträhnen nach hinten geschoben wurde.
Seit jeher war eine derartige Beziehung verboten. Jahrhundertelang brannte schon ein abgrundtiefer Hass zwischen Menschen und Caesariern. Doch nichts tarnte diese Liebe besser, als die unerbittliche Dunkelheit.
Margret bedauerte es, nicht wie ihr Vater zu sein: caesarisch. Früher, als sie noch klein war, stand sie oft vor einem der großen Spiegel in den langen Gängen des Anwesens und versuchte den Hauch feiner blauer Linien hinter ihrem Ohr zu erkennen.
Aber es war nichts zu sehen, nur die runde Vollkommenheit einer Ohrmuschel und dahinter rosafarbene zarte Haut.
Noch nie hatte sie ihre Großeltern kennen gelernt. Elisa, eigentlich Elisabeth hieß, und Arthur sprachen nie über sie.
Das Einzige, worüber ihre Mutter von früher sprach, war die goldgelbe Kugel, die jeden Morgen über den Himmel wanderte und Wärme spendend die Erde erhellte.
Sie erzählte auch von einer weißen Kugel, die zu jener Zeit mit den Sternen zog und zeichnete mit ihren Worten ein Gesicht von einem Mann, der auf der weißen Kugel, die sie Mond nannte, wohnte.
Der Mond soll seine Form von einer Sichel, in eine runde Kugel und wieder zurück gewandelt haben, bis einige Nächte nichts mehr von ihm zu sehen war. Elisa erzählte ihr, dass er in dieser Zeit fortreiste in andere bezaubernde Welten, doch etwas schien ihn immer wieder hierher zurückgezogen zu haben.
Elisa konnte immer so gut Geschichten erzählen, dass Margret direkt in sie hineintauchte.
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