Sie beschloss Harriet nach dem Unterricht zu besuchen und zu schauen, ob eine neue Pflanzenart zu bestaunen war.
Die letzten beiden Stunden vergingen noch zäher und Margret stürmte aus dem Zimmer, ohne auf die rufende Stimme des Masters zu achten, der entweder zur Vorsicht ermahnte oder ihr eine Studienaufgabe hätte erteilen wollen. Sie wusste, dass sie nie um diese Aufgabe herumkommen würde, doch für heute war es überstanden.
Harriet begrüßte Margret schon, als sie über den Rasen eilte und lud sie zu Tee und Kuchen ein. Sie setzten sich in das Botanikum, das mit Kerzen beleuchtet war. Die Blüten verströmten einen betörenden Duft. Margret liebte es, wenn Harriet, wie ihre Mutter, Geschichten von früher erzählte.
Manchmal sah sich Margret in einem der schönsten Kleider und einem mit Blumen besetzten Hut auf einer Wiese sitzend, saftig grünes Gras bedeckte einen Hügel und fühlte sich wie ein weiches Polster an. Kleine bunte Tupfen waren zwischen den zarten Grashalmen zu erkennen und gaben sich beim näheren Hinsehen als verzückende Blümchen zu erkennen. Ihre Farben waren so vielfältig, wie die Form ihrer Blütenblätter. Harriet erzählte, dass manche von ihnen auf unterschiedliche Pfeiftöne reagierten, sodass sie ihre Köpfe zu den Lauten reckten.
Doch am meisten liebte Margret die Flora Florinnae. Ihre Lieblingsblume, eine elegante Blüte aus dem Geschlechte der Bella Florinnae, die schon damals von Caesariern wegen ihrer Schönheit verehrt wurde und einst die Blüte der Choclairs war. „Grazil und anmutig regte sie, wenn die Sonne schien, ihr Haupt zum blauen Himmel. Ihr entschwebte ein Duft, dem keine Biene widerstehen konnte“, erzählte Harriet.
„Jedoch das geheimnisvollste, was sie umgab, war ihr Gesang. Nur wenige können das betörende Singen dieser verlockenden Königin vernehmen. Und jene aus dem Geschlecht der Choclairs, die dazu auserkoren sind, seien von Glück und Liebe im Leben beseelt. Aus ihr ließen sich die stärksten Heiltränke herstellen“, erzählte Harriet mit verklärtem Blick.
Aber seitdem die Dunkelheit alles umschlossen und die Finsternis sich ausgebreitet hatte, wurde sie nie wieder gesehen. Nicht einmal Harriet konnte eine von ihnen ihr Eigen nennen, obwohl ihr Botanikum an Größe und Schönheit nicht zu übertreffen war.
„Ich war vor langer Zeit zusammen mit meinem Mentor, Master Wickleton, auf Expeditionsreise. Ein begnadeter Mann im Bereich der Blitzheilung. Nur zwei Menschen auf dieser Erde beherrschten diese.
Er und Damarinius, ein begnadeter Alchemist, waren Entwickler einer Essenz, die schlimmste Verletzungen heilte.
Auf einer Reise um die Welt, fanden sie den Hauptbestandteil dieser Essenz. Aber etwas lief schief. Master Wickleton hatte nie davon erzählt, aber man munkelt von einem gescheiterten Experiment, dessen Ergebnis so schrecklich und furchterregend war, dass sie schworen nie wieder diese Essenz herzustellen. Master Wickleton nahm dieses Geheimnis mit in sein Grab.“ Harriets Stimme wurde traurig, während sie davon erzählte.
„Doch genug davon, heute habe ich für dich eine Überraschung“, sagte Harriet geheimnisvoll und stand auf, um einen kleinen unscheinbaren Karton mit kleinen Löchern aus dem Nachbarzimmer zu holen und ihn vorsichtig auf Margrets Schoß zu platzieren.
Sie hob den Deckel des Kartons, griff hinein, lächelte kurz und hob ein grünes Geschöpf aus dem Behälter. Margret konnte ihren Augen kaum trauen. Es war eindeutig ein grünes Amphibium mit zwei großen Augen, die erhaben von der Seite abstanden. Zwei kleine Nasenlöcher und ein breiter Mund darunter. Vorne auf der Stirn befand sich eine rote rautenförmige Zeichnung, die genau zwischen den grünen Augen mit den spindelförmigen Linsen saß. Die vorderen Gliedmaßen waren kurz, die hinteren vor Kraft strotzend zusammengefaltet und an allen vier Füßen befanden sich jeweils vier Zehen.
Nach dieser Betrachtungsweise eindeutig ein kleiner grüner Frosch, dem es in der Hand von Harriet sehr zu gefallen schien und der seine Umgebung aufgeweckt musterte.
Doch wollte Margret ihn nicht so recht einordnen, denn hinter den Augen wuchsen zarte blonde Locken.
„Dein Gesicht verrät deine Gedanken“, sagte Harriet verschwörerisch und reichte ihn ihr. Um das Geheimnis um meinen kleinen Freund hier zu lüften: Es handelt sich bei diesem Exemplar um einen, aus dem tropischen Sümpfen von Boloir kommenden, Ranunculus cirrii. Ein guter Bekannter hat ihn mir von einer seiner Reisen mitgebracht. Es ist ein Lockenfrosch.“
Margret entgleisten scheinbar die Gesichtszüge, denn Harriet begann köstlich zu lachen. „Ein treuer Begleiter wird er dir sein, also lass uns einen Namen für ihn finden. Wie möchtest du ihn nennen? Doch bedenke gut, seinen Namen wird er nur anerkennen und auf ihn hören, wenn er ihm gefällt!“ Margret brauchte nicht lange zu überlegen, denn wenn sie einen Namen mit einem Frosch verband, dann nur einen.
Fredrik.
„Ich werde ihn Fredrik nennen, wenn er nichts dagegen hat. Fredrik der Lockenfrosch.“ Danach wandte sie sich unsicher an ihren neuen Gefährten: „Hallo, Fredrik, mein Lockenfrosch?“ fragte Margret und kraulte das kleine grüne Kinn.
Als hätte Margret auf eine richtige Antwort gewartet, gab Fredrik ein erfreutes Quaken von sich und schmiegte sich an ihre warme Hand.
Margret verbrachte noch ein paar Stunden in dem Paradies, lauschte den Geschichten von abenteuerlichen Reisen und machte sich dann auf den Weg in ihr eigenes Zuhause. Sie wollte unbedingt an diesem Abend in ihr Bett schlüpfen und das Erlöschen der Laternen beobachten, bis sie nur noch ein leichtes orangenes Glimmen von sich gaben.
Morgen würde der Tag sein, an dem sich der Smaragdkäferlinger Hubertus mit Margret verabredet hatte, doch sie hatte es vergessen. Der gestrige Tag bei Harriet war so aufregend gewesen, als sie dem Frosch einen Namen verleihen und in so viele Geschichten eintauchen durfte.
Master Crispin stand wild gestikulierend an der Tafel und war vollkommen in die Schlacht in den grauen Kranichbergen eingetaucht. Mit voller Inbrunst zeichnete er die taktischen Angriffe entlang des Berghanges an die Tafel und symbolisierte so, wie viele Opfer auf beiden Seiten gefallen und welche Rückschläge zu verzeichnen waren.
Als Margret endlich am Nachmittag vom Lernen befreit war, freute sie sich das Ende ihres Romans zu lesen. Auf den letzten Seiten war dieser so nervenaufreibend, das sich ihr Herzschlag erhöhte. Margret rutschte auf ihrem Bett hin und her, als wüsste sie nicht recht, wie sie sitzen sollte. Eine Geschichte, die ihr das Herz bis zum Hals schlagen ließ.
So verging die Zeit.
Margret wachte zur nächsten Nachtgleiche auf, die Laternen entsendeten bereits ihr Licht in die Dunkelheit und sie schlug die Decke zurück, um sodann die Beine aus dem Bett zu schwingen und zum Frühstück zu eilen. Beim Hinausgehen schlüpfte sie kurz in ihre Hauspuschen und griff nach ihrem Morgenmantel.
Als sie die Treppe herunterrannte, umwehte sie der Geruch von frisch gebackenen Croissants und mit Puderzucker bestreuten Waffeln. Elisa und Arthur saßen bereits am Frühstückstisch, ihr Vater mit der Zeitung in der Hand.
Sie raschelte beim Aufschlagen und sein Blick verriet, dass er vertieft in einen Artikel war. Wahrscheinlich über ein politisches Thema, das in der Ratssitzung besprochen wurde und nun als Bericht seinen Platz dort gefunden hatte.
Es war sein morgendliches Ritual, Margret kannte es sehr gut. Elisa, gehüllt in einen seidenen Morgenmantel, saß mit einem Marmeladenbrötchen so am Tisch, dass sie den verträumten Blick in dem Garten schweifen lassen konnte, und wippte mit einem ihrer Beine im Takt einer Musik, die nur sie hören konnte.
Für Margret bedeutete dieser Anblick, zu Hause zu sein. Sie schlich um den großen massiven Esstisch herum, an dem die Familie sich zu den Mahlzeiten traf. „Morgen kleines Mäuschen, hast du gut geschlafen?“, ihre Mutter hatte ihren verträumten Blick gelöst und schaute ihre Tochter interessiert an. Margret lächelte, machte kurz kehrt, steuerte auf ihre Mutter zu und drückte ihr während einer Umarmung einen Kuss auf die Wange. „Du weißt doch, dass ich nicht mehr dein kleines Mäuschen bin“, protestierte sie, genoss aber die Umarmung ihrer Mutter, die sie wiederum nicht mehr los ließ und ihr daraufhin nur ins Ohr flüsterte: „Dann eben nur Mäuschen“.
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