Da ich ihn in der Schule im Augenblick nicht erreichen konnte (er musste jetzt mitten im Unterricht sein), rief ich meine Mutter an. Sie reagierte eher skeptisch.
»Das ging aber schnell. Habt ihr euch das auch wirklich gut überlegt?« Auch ich wunderte mich darüber, wie schnell alles gegangen war. Unser Antrag lag erst etwa ein halbes Jahr zurück.
Die Ängste meiner Mutter vor einem Familienmitglied mit ungewisser Herkunft waren groß. Seit wir uns entschlossen hatten, einem Kind bei uns ein neues Zuhause zu geben, hatte es deshalb schon einige recht problematische Gespräche zwischen uns gegeben. Ich hoffte jedoch noch immer auf ihr Verständnis, zumal sie wusste, wie sehr ich unter der Kinderlosigkeit gelitten hatte. Beinahe alle medizinischen Wege hatten wir ausgeschöpft, sogar auf die Möglichkeit der Befruchtung im Reagenzglas waren wir vor ein paar Jahren noch bereit uns einzulassen ...
»Junge oder Mädchen?«, fragte sie am anderen Ende der Leitung.
»Junge.«
»Wie alt?«
»Er wird bald fünf.«
»Ist der nicht schon ein bisschen zu alt?«
»Ich finde das gerade richtig. Für einen Säugling bin ich inzwischen auch nicht mehr jung genug.« Ich war 40!
»Aber mit einem Säugling wäre es leichter. Den kann man besser formen. Wer weiß, was ein Kind in diesem Alter schon alles mitgemacht hat? Stell dir das nicht zu leicht vor.«
Dass Mütter einem ständig Unfähigkeit unterstellen müssen, sogar wenn man inzwischen ein Alter erreicht hat, in dem man längst selbst erwachsene Kinder haben könnte. Außerdem hatte ich in meinem Beruf als Lehrerin tagtäglich mit Kindern zu tun, glaubte, recht gut auch mit schwierigen Kindern zurecht zu kommen, hatte ein breites 'Übungsfeld'.
Ich sagte ihr das.
»Zwischen Kindern in der Schule und denen zu Hause besteht ein großer Unterschied«, gab sie zu bedenken.
Das wusste ich natürlich auch, fühlte mich trotzdem qualifiziert genug und empfand den Drang meiner Mutter, mich belehren zu wollen, als etwas anstrengend. Ich wollte doch nur meine Freude loswerden, sie mit ihr teilen.
»Außerdem können wir uns das nicht aussuchen. Wir müssen nehmen, was kommt. In unserem Alter ist es eben schwer, einen Säugling zu bekommen. Abgesehen davon möchte ich auch gern ein Kind, mit dem man schon etwas anfangen kann. Das ist in Ordnung so. Die Leute, die einen Säugling bekommen, müssen erst einmal acht Wochen lang zittern, ob ihnen das Glück erhalten bleibt. Vor acht Wochen darf die Kindesmutter nämlich keine Adoptionsfreigabe unterzeichnen. Und glaub nicht, dass die ganz Kleinen von der Trennung nichts merken. Man unterschätzt leider immer noch, was auch Kleinstkinder schon mitbekommen.«
Mit etwas Unbehagen beendete ich das Gespräch. Sie hätte sich wenigstens ein bisschen mit mir freuen können, dachte ich. Aber sie war schon immer sehr vorsichtig, ging an alles Neue mit einer großen Portion Misstrauen heran.
Ich lief hinaus zu unseren Schafen und erzählte ihnen die Neuigkeit. Irgendwie musste ich mir die Zeit vertreiben, bis Martin zu Hause war. Etwas Sinnvolleres wusste ich im Augenblick vor lauter Aufregung nicht zu tun. Außerdem hörten die Tiere mir geduldig zu und stellten keine unangenehmen Fragen.
Dann kam Martin endlich. Ich stürzte auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. »Die haben ein Kind für uns!«, strahlte ich ihn an. »Frau Ottens vom Sozialdienst hat heute morgen angerufen.«
Im Gegensatz zu mir, die ich heute meinen freien Tag hatte, war er noch geschafft von der Schule und ließ müde seine Schultasche fallen. Geräuschvoll zog er einen Stuhl über den Holzfußboden und setzte sich an den Küchentisch. »Langsam, langsam ... «
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und gähnte ausgiebig. "So, jetzt noch einmal von vorn.«
»Sie wollen uns einen knapp fünfjährigen Jungen vorstellen.«
»Wann? «
Ich setzte mich zu ihm. »Am Freitag Nachmittag.«
»Ach, so schnell schon?« Er nahm die Arme wieder herunter, beugte sich zu mir vor und stützte sich auf den Tisch. »Wie heißt er? Weshalb ist er im Heim? Was ist mit seinen Eltern?« Auch ihn hatte offenbar die freudige Erregung erfasst, so viel verriet mir jedenfalls sein Gesichtsausdruck und seine Körpersprache. Ich war erleichtert, denn die Initiative, überhaupt ein Kind zu adoptieren, war eigentlich von mir ausgegangen. Es hatte eine Reihe problematischer Gespräche zwischen uns gegeben, bevor er sich mit dem Gedanken anfreunden konnte. Inzwischen hatten wir beide eine Schulung beim 'Sozialdienst Katholischer Frauen' (SKF) hinter uns und warteten voller Spannung auf die Praxis.
»Stephan heißt er. Mehr wollte sie mir noch nicht erzählen.«
»Stephan? Du hattest da doch in der letzten Woche diesen Traum ...«
»Interessant, nicht? Ich kann es selbst kaum glauben.«
Aber es war so. Ich strahlte ihn an.
Heute, am 24. Februar 1988, sollten wir 'unser' Kind das erste Mal sehen. Würde mir sein Gesicht so selbstverständlich vertraut und bekannt sein wie sein Name? Ich konnte mich zwar nicht an ein Bild in meinem Traum erinnern, hatte nur noch den Namen im Ohr, aber vielleicht würde es so etwas wie ein Wiedererkennen geben, wenn ich ihn sah. Merkwürdig war das Ganze ohnehin. Wie vorbestimmt musste unser Leben sein, wenn es möglich war, von Dingen zu träumen, die bis dahin noch völlig im Dunklen lagen?
Natürlich waren wir viel zu früh beim Kinderheim. Ich hatte ein Gefühl von tausend Ameisen im Bauch, was sich während der Wartezeit zu drängenden Schmerzen verstärkte. Offensichtlich lag ich psychisch in den 'Wehen'. »Das haben die Frauen hier öfter«, sagte mir später schmunzelnd ein Mitarbeiter des Heimes. Ich atmete tief durch und versuchte, möglichst ruhig zu bleiben.
Heimpersonal ging milde lächelnd an uns vorüber. Kinder, die gerade aus der Schule 'heim' kamen, betrachteten uns interessiert und grüßten so freundlich sie konnten. Ehepaare, die auf diesen Sesseln warten, werden sicher mit den freudigsten Erwartungen belegt, dachte ich mir und grüßte so nett ich konnte zurück.
Endlich kam Frau Ottens und geleitete uns in einen anderen Gebäudetrakt. Ich war angenehm berührt von der freundlichen Ausstattung des Hauses. »Das ist ja richtig hübsch hier«, sagte ich zu ihr. »Hier können es die Kinder sicher recht gut aushalten.«
»Ja. Sie leben in kleinen Gruppen, wie in einer Familie. Aber das ist natürlich kein wirklicher Ersatz.«
Sie führte uns in einen Aufenthaltsraum, ein helles Zimmer mit angenehmer Atmosphäre. Hier konnten wir auch Herrn Heinen begrüßen, den Psychologen des Hauses, zusammen mit der Betreuerin Stephans, seiner augenblicklichen Hauptbezugsperson, Frau Bertram. Sie setzten sich zu uns und begannen, von ihm zu erzählen. Mir schien als leuchteten ihre Augen dabei. So spricht man nur von einem Kind, das man mag, dachte ich.
Wir erfuhren, dass Stephan bereits mehrere Stationen durchlaufen hatte. »Vor etwa vier Monaten haben seine Adoptiveltern ihn hierher abgeschoben«, erzählte Herr Heinen. »Für sie war der Umgang mit ihm offenbar zu schwierig. Auch mit seinen Entwicklungsverzögerungen konnten sie nicht umgehen. Ihre Erwartenshaltung war einfach zu hoch. Stephan wird zwar im nächsten Monat fünf, doch er steht noch auf der Stufe eines etwa Dreijährigen. Er hatte keine Bindung an diese Menschen, hat sich in der ersten Zeit hier völlig distanzlos verhalten, ging auf jeden freundlich zu. Inzwischen ist das schon anders. Jetzt sieht er sich die Leute erst genau an, bleibt abwartend. Er galt als ein Kind, das nicht schmusen konnte, das sich steif machte, wenn es berührt wurde. Inzwischen hat er sich jedoch schon so sehr auf Frau Bertram eingestellt, dass sie ihn sogar in den Arm nehmen darf. Nun scheint er alles nachholen zu wollen, verlangt ständig nach Streicheleinheiten. Der Zeitpunkt ist gekommen, dass er vermittelt werden muss, ehe er sich zu sehr an Frau Bertram bindet.«
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