Ich war zu einem Kerl mutiert, der sich von ein paar Vollpfeifen in einer versifften Kneipe zum Gespött machen ließ, der all seinen Mut zusammennehmen musste, um dem Schwachkopf hinter der Theke zu sagen, dass sein Laden ein Schweinestall war, obwohl das ja wohl für ihn selbst kaum eine Neuigkeit darstellte.
Ich war sauer auf mich selbst. Und auch auf Karin. Stinksauer. Sauer auf Karin, auf Kalle und seinen Pestgrill „Zum Schmierigen Löffel“, sauer auf mich selbst und auf die gesamte Situation.
Aber da war noch mehr. Langsam begann ich, Gefallen an dem Gedanken zu finden, vielleicht einmal für eine Weile allein zu sein, und den guten alten Robert (also den Robert vor der Mutation zum Waschlappen) noch einmal auszuprobieren.
Auf dem Weg zurück zu meinem Wagen fiel mir auf, dass ich einen anderen Gang hatte, als zuvor. Ich ging nicht, ich schritt regelrecht. Ich war erhobenen Hauptes auf dem Weg zum Parkplatz, ein Ticket in die Sonne in meiner Tasche, und irgendwie hatte ich den Eindruck, eine ganz andere Persönlichkeit auszustrahlen. Eine gefestigte, überzeugte und irgendwie stärkere Persönlichkeit, als noch am Morgen. Klar, es ist schon möglich, dass ich übertreibe, aber genau so fühlte es sich an. Ich war irgendwie... nun... ein richtiger Kerl.
Und wenn Sie da Zweifel haben: Fragen Sie Kalle.
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„Wenn du die Absicht hast, dich zu erneuern,
tu es jeden Tag.“
(Konfuzius)
Zugegeben, ich habe während der nächsten Tage nur noch selten versucht, Karin bei ihrer Mutter zu erreichen.
Erstens, weil ich keine Lust hatte, bei meinem Schwiegerdrachen zu Kreuze zu kriechen, nur um mit meiner eigenen Frau ein paar Worte wechseln zu dürfen und zweitens, weil ich immer stärker unter der Eindruck stand, dass Karin selbst auch mal hätte aus den Hufen kommen können. Immerhin war mittlerweile eine Menge Wasser den Rhein hinunter geflossen, und Funkstille ist nicht eben das probate Mittel, um Probleme zu lösen. Ich fand, ich hatte oft genug versucht, sie zu erreichen. Der Ball lag jetzt, wie man so schön sagt, in ihrem Feld. Spielen musste sie ihn schon selbst. Immerhin hatte ich einige Versuche gemacht, doch es war nicht Margots Anrufbeantworter, mit dem ich Dinge aufzuarbeiten hatte, sondern Margots Tochter.
Ich bin nicht stolz darauf, aber ich verbrachte während der nächsten Tage viel Zeit damit, einfach nur vorhanden zu sein. Ich schlief bis in den späten Vormittag hinein, hing vor der Glotze wie ein nasser Sack und schaute mir Bundesliga-Spiele an (Fußball interessiert mich nicht die Bohne, aber zumindest war Bewegung im Spiel, und die Werbeunterbrechungen wurden in die Halbzeitpause verbannt). Ich verfolgte die verwirrend dämlichen Handlungsstränge amerikanischer Sitcoms und trank Bier.
Viel Bier.
Jetzt, da ich mir die ganze Geschichte zwecks ihrer Aufzeichnung noch einmal durch den Kopf gehen lasse, war das eigentlich eine verdammt gute Zeit.
Als ich im Zuge meines Sportschau-Vorbereitungs-Rituals zum ersten mal die Füße auf die Armlehne der Couch legte, ohne mir vorher die Schuhe auszuziehen, erlebte ich ein mir völlig neues Phänomen. Plötzlich war mir, als würde sich ein Loch in der Realität auftun. Die Stille, die sich ausbreitete, war fast schon mit Händen zu spüren. Farben intensivierten sich, Geräusche wurden klarer und differenzierter. Es war, als hätte ich einen Raum innerhalb des Raumes betreten, in dem die allgegenwärtigen Gesetze der Physik keinerlei Geltung mehr hatten. Eine Parallelwelt. Eine alternative Realität, in der der Raum nicht nur gekrümmt, sondern regelrecht von innen nach außen gekehrt schien. Ein Parallaxenfehler im vierdimensionalen Raumzeit-Gefüge? Ich fragte mich, was wohl vorgefallen sein mochte. Ich nahm die Füße von der Couchlehne, und die Luft machte ein schnappendes Geräusch, als sie das Vakuum, das der fremde Raum zurückgelassen hatte, wieder schloss.
Was war geschehen?
Irgend etwas, dessen Eintreten ich zwingend vorausgesetzt hatte, war ausgeblieben. Dann fiel es mir ein: Karin war nicht da, um mir für meine unerhörte Missbilligung ihrer ehernen Regeln im Bezug auf Schuhe, Couchlehnen und vor allen Dingen deren Kombinationsmöglichkeiten, die Haut in Streifen abzuziehen.
Lachen Sie ruhig, aber ich glaube, dass ich erst in diesem Moment wirklich verstand, dass sie weg war. Erst in dieser Sekunde begriff ich auch emotional, dass Karin nicht mehr hier wohnte, nicht da war, nicht nur zum Einkaufen gegangen, sondern tatsächlich weg war.
Wirklich weg.
Meine Schuhe brachten mich fast um, denn sie waren neu und noch nicht eingelaufen, aber ich behielt sie trotzdem noch fast eine ganze Stunde lang an, als ich so auf meinem Sofa lag und mich gähnend über die Fußballergebnisse der Regionalliga Nord informierte. Es handelte sich um ein Thema, das mich in etwa so brennend interessierte, wie die durchschnittlich anzunehmende Reproduktionsrate westsudanesischer Kartoffelkäfer.
Aber ich genoss es. Jede Minute davon.
Die ganze Situation hatte etwas Diebisches, etwas Verbotenes an sich. Tief in mir drin machte sich ein Gefühl breit, an das ich mich kaum mehr erinnern konnte. Zuerst wollte es mir nicht einfallen, doch dann wurde mir klar, womit sich dieses Gefühl am besten vergleichen ließ: Es war wie damals, als ich während eines Aufenthaltes im Schullandheim in Kommern meine erste Zigarette rauchte. Wir standen im Freilichtmuseum hinter einer antiken Scheune und pafften. Als wir dann wieder zu unserer Klasse stießen und uns nach einem kurzen Moment des Muffensausens klar wurde, dass unser Lehrer offenbar nichts von unserem kleinen Abenteuer mitbekommen hatte, waren wir kleinen Hosenscheißer alle stolz wie Oskar. Auch, wenn unsere Gesichter die Farbe von wässrigem Spinat angenommen hatten, und wir es kaum erwarten konnten, die nächste Toilette zu stürmen, waren wir die unbesungenen Helden des Tages. Ein ganz ähnliches Hochgefühl überkam mich jetzt, während ich in schmerzenden Schuhen auf der Couch lag und einen Dreck darum gab, ob sich das gehörte, oder nicht.
Finden Sie das lächerlich?
Ich auch.
Aber in dem Moment war es gut und richtig und vielleicht sogar wichtig für mich. Immerhin sagt man ja, es sei nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben! Ich muss zugeben: Ich genoss die Zeit. Macht mich das zu einem schlechten Menschen? Wohl kaum.
Tja, und nun sind wir an einer Stelle meiner persönlichen Geschichte angelangt, deren Erzählung ich Ihnen (und vor allem mir selbst) liebend gern ersparen würde, doch die sogenannte Chronistenpflicht verlangt wohl von mir, auch von Dingen zu berichten, bei denen ich nicht allzu gut dastehe. Ich spreche von einem Abend, an dem ich mich wahrhaftig zum Affen machte, der aber nichtsdestotrotz einen Meilenstein in meiner persönlichen Geschichte darstellt. Nun, es gibt positive und es gibt negative Meilensteine. Ich meine, wenn man zum Beispiel nur mal die NASA nimmt, gibt es die erste Mondlandung, und es gibt die Challenger-Explosion. Der Abend, von dem ich Ihnen jetzt erzähle muss, fällt definitiv in die Challenger-Kategorie.
Der Termin der Abreise war nur noch wenige Tage entfernt und ich machte mir mal wieder ein Bier auf, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt schon mehr als genug getankt hatte. Es war halt einer dieser Abende, wenn Sie verstehen.
Ich nahm mir eine Tüte Chips, streckte mich genüsslich, zog mir ein paar Schuhe an und legte meine Füße auf die Couch. Ich trank einen Schluck, krümelte mit den Chips herum, zappte durch die Kanäle, trank erneut und schüttelte missbilligend den Kopf als mir klar wurde, dass eine riesige Anzahl an Fernsehsendern keinesfalls eine riesige Auswahl bedeuten musste. Aus Mangel an interessanten Fernsehübertragungen richtete ich meinen Blick langsam immer mehr auf mein eigenes Programm.
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