1 ...8 9 10 12 13 14 ...20 Und wann genau war das passiert?
Scheinbar war es ein schleichender Prozess, der mich zu diesem rückgratlosen Etwas gemacht hatte. Und genau das war das Hinterhältige an der Geschichte. Es war kein Ereignis, es war ein Prozess. Langsam, unter meinem Radar und vollkommen unbemerkt, war ich von Robert, dem Mann mit Plänen und Träumen, zu „Robbie“ von Die Kruses geworden. Der Vergleich mit einem Unfall, der sich über dreißig Jahre hingezogen hatte, erschien mir treffender denn je. Genau so war es! Ich war zum nichtsahnenden Opfer einer Zeitlupen-Katastrophe geworden. Vom jungen und enthusiastischen Draufgänger früherer Zeiten zum farblosen, schlaffen Sonntagsbraten-Bausparvertrags-Einbauküchen-Doppelgaragendeppen von heute.
Karin war immerhin noch genügend Karin, um für sich persönlich die Entscheidung zu treffen, mich zu verlassen. Nur ich schien irgendwie noch immer mehr Die Kruses zu sein, als ich Robert war.
Genug war genug!
Auch ich konnte Entscheidungen treffen, und die erste Entscheidung, die ich traf, war, alleine in die Karibik zu fahren. Gut so! Ich würde sozusagen als freier Geist, als Unabhängiger, als Strohwitwer auf Tour gehen. Warum auch nicht? Schließlich war es ja nicht ich, der das Haus verlassen hatte. Ich hatte nicht Zuflucht unter den Fittichen des Drachen gesucht, mich in eine andere Stadt abgesetzt, jeden Kontakt abgebrochen und meinen Partner allein zurückgelassen. Wenn ich tatsächlich ein Strohwitwer war, dann nur, weil sie mich dazu gemacht hatte!Konnte sie mir jetzt allen Ernstes einen Vorwurf daraus machen, wenn ich mich für ein paar Tage in die Karibik absetzte?
Na, ja. Sie könnte es ja mal versuchen.
Ja, vielleicht war es an der Zeit, mal an sich selbst zu denken! Ich war ja schließlich noch immer ein erwachsener Mann, verdammt noch mal! Schluss mit der ständigen Duckmäuserei! Schluss mit Karin hier, Karin da, Karin dort! Wenn Karin es geschafft hatte, sich aus der Die Kruses-Suppe herauszudestillieren, dann konnte ich das schließlich auch!
Gleiches Recht für alle! Aus und vorbei mit dem Weg des geringsten Widerstands! Schnauze voll von Kompromiss und wachsartiger Nachgiebigkeit!
„Robbie“ mein Arsch!
Entschuldigen Sie bitte mein Vokabular: Ich beschloss in diesem Moment spontan, mir wieder Eier wachsen zu lassen.
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„Selbstvertrauen gewinnt man dadurch, dass man genau das tut, wovor man Angst hat, und auf diese Weise eine Reihe von erfolgreichen Erfahrungen sammelt.“
(Dale Carnegie)
»Ich bin´s wieder. Kann ich noch ein Bier haben?«
Das menschliche Inventar von Kalle's Zapfhahn musterte mich mit verwundert hochgezogenen Augenbrauen. Kalle, der gerade dabei war, frisch gespülte Gläser mit einem ranzig-keimigen Küchenhandtuch erneut zu verschmieren, wunderte sich ebenfalls nicht schlecht über meine Rückkehr.
»Ach! Der Meister Proper! Immer noch Durst, wa?«
»Ja. Ich bin durstig. Kann ich diesmal bitte ein sauberes Glas haben? Eines, durch das man hindurchschauen kann? Danke.«
Das Thekenmännchen schaute kurz zu seinem Fanclub, vergewisserte sich, dass ihn alle hören konnten und richtete sich dann wieder an mich.
»Ich könnt ja noch flott nen neuen Krug aus Kristallglas blasen, wenn der Herr vielleicht so viel Zeit hätte...«
Während sich die Stammbesetzung der Kneipe pflichtbewusst beömmelte, atmete ich tief durch, nahm all meinen Mut zusammen und wischte dann demonstrativ langsam über die Theke. Das Furnier der Platte gab ein schmieriges Quietschen von sich. Ich begutachtete die Krümel auf meiner Handfläche und schüttelte angewidert den Kopf. Dann lehnte ich mich vor.
»Wissen Sie, das wäre ganz reizend. Danke.«
Kalle schulterte sein Tuch und schaute mich fragend an. »Watt wäre reizend?«
»Blasen Sie mir einen...«
Seine Augen weiteten sich. Er beugte sich über den Tresen, bis seine Nasenspitze nur noch Zentimeter von meiner entfernt war. Dann zischte er: »Watt soll ich?«
»...Krug. Kristallglas. Blasen Sie mir einen frischen, sauberen, kristallklaren Kristallglaskrug. Ich dachte, dass hätten Sie eben angeboten.«
Die Mitglieder seines Fanclubs schauten jetzt angestrengt schweigend in ihre Gläser, während Kalle in aller Eile ein Bier zapfte und es vor mich hin stellte. Er beugte sich leicht nach vorn und senkte seine Stimme zu einem Flüstern.
»Jetz sind et sechs Richtige, Freund. Trink watte häss, un dann aber ab die Post.«
Ich hielt das Bierglas hoch und gegen das Licht. »Aus diesem Glas?«
Er äffte mich nach. »Ja, aus diesem Glas, der feine Herr.«
Ich stand auf und hoffte, dass niemand meine schlotternden Knie bemerken würde. Dann beugte ich mich vor und schüttete den Inhalt des Glases in den Ausguss hinter der Theke. Aus der Ecke mit dem leise vor sich hin dudelnden Geldspielautomaten meinte ich zu hören, wie jemand »Pass opp! Jetz hätt der Arsch gleich Kirmes«, sagte. Noch während Kalle sein Geschirrtuch weglegte und Luft holte, um mich anzublaffen, ergriff ich das Wort.
»Das Glas ist eine verdammte Zumutung! Dieser Laden ist eine verdammte Zumutung! SIE sind eine verdammte Zumutung! Ich sollte das Glas mitnehmen, denke ich! Das Glas, die Krümel, den ganzen verdammten Siff!«
»Watt willste? Gläser klauen, oder watt?« Kalle wurde merklich sauer. »Hol ich besser die Polente, oder watt?«
»Nein, aber das Glas hier geht zur Polente! Oder besser zum Gesundheitsamt! Ich denke, die Jungs bringen es dann wieder mit, wenn sie Kalle's Kakerlakendorado besuchen und die Toiletten, die Kühltheken, die Zapfanlagen, die Oberflächen, Silikonfugen, die Haltbarkeitsdaten der Lebensmittel, die Aufenthaltsräume und die Füllstände der Seifenspender kontrollieren! Wie wäre es damit, Kalle?«
»Äh... kontrollieren... Sind se jetzt so'n Typ vom Gesundheitsamt oder wie?«
Immerhin siezte er mich jetzt. Auch ein Anfang. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass sich nach den Worten Polente und Gesundheitsamt weite Teile der Stammkundschaft auf die Suche nach ihren Jacken machten und Dinge, wie „Mensch, ist das schon spät“ murmelten.
»Hören Sie«, raunte Kalle, »Ich wusst ja nitt, datt et sooo dreckich war. Jetz müssen wir ja auch nitt gleisch so übertreiben. Kommense, isch mach Ihnen noch en Bier, jeht auf Haus. Wegen dem dreckigen Glas von eben. Einverstanden? Simmer dann quitt?«
»Nein.«
Er schluckte.
»Ich habe die Schnauze gestrichen voll von Großmäulern wie Ihnen! Ich bin Gast in Ihrem Haus und ich erwarte für mein Geld eine vernünftige Behandlung und saubere Gläser! Ist das zu viel verlangt? Ich habe in meinem Leben zu viel erlebt, zu viel geleistet und mir vor allem viel zu oft auf die Zunge gebissen, als das ich es nötig hätte, mir von einem Kneipenwirt mit rudimentären Deutschkenntnissen Unverschämtheiten und platte Witzchen auf meine Kosten anzuhören! Das Schauspiel hat ein Nachspiel! Und jetzt mache ich, dass ich wegkomme, bevor ich mir in Ihrem Laden noch was hole!«
Kalle war sichtlich überrascht, schwieg aber noch immer mit offenem Mund und verdutztem Blick.
Ich war schon auf dem Weg zur Tür. Er rief mir hinterher: »Jetz kommense doch zurück! Mer könne doch über alles...«
»Man sieht sich, Kalle!«
Ich knallte die Tür hinter mir zu und machte mich auf den Weg zu meinem Auto. Das Schlottern in meinen Knien ließ langsam nach.
Wundervoll! Das hatte wirklich gutgetan! Warum hatte ich so etwas eigentlich nicht längst schon mal gemacht? Warum war ich immer so nett? Die Frage ging mir erneut durch den Kopf. Typisch Kruse! Immer darauf bedacht, bloß nirgendwo anzuecken, immer schön auf Kuschelkurs, immer das gute Bild wahrend, immer hübsch angepasst und abwaschbar.
Warum eigentlich? Was brachte diese ganze angepasste Weichspülertour eigentlich mir? Mir selbst? Was hatte ich davon, immer der nette Kerl zu sein? Oder anders gefragt: Wohin hatte mich dieser Kurs bitteschön auf lange Sicht gebracht?
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