O Glück des Einziehens. Du hast eine neue Wohnung, hast sie mit erbaut! Wohnst im ersten Stock. Fontanestraße. Das Haus duftet nach Kalk und Ziegelstein. Trockenwohnen – lang aus der Mode. Du wohnst trocken. Anno 61 freust du dich, die ersehnte Bleibe auszugestalten. Wenn das Bohren und Hämmern ein Ende findet, wird jeder seine Ruhe haben wollen. Aber der Papagei wird durch die dünnen Wände zu hören sein. Augenblicklich ist er unerträglich, kreischt metallen auf, wenn nur in einer der Wohnungen gehämmert oder gebohrt wird. Was tun? – Renate krabbelt um die vollen Bücherkisten. Für maßgerechte Regale muss rasch ein Tischler gefunden werden. In der Nähe gibt es einen tüchtigen Altmeister, ortsbekannt ob seines Könnens und seiner Preise. Der Meister kommt, vermisst die Wände. Mitleidig betrachtet er die Tür des Kleiderschranks, die nur mit Hilfe eines eingeklemmten Stück Leders geschlossen bleibt, murmelt „russischer Verschluss“. – „Bei Gagarin im Weltraum haben sie‘s auch so gemacht“, höhnt Mugele, besinnt sich aber: Im Bauern-und-Handwerker-Staat sei lieb zu deinem Tischler.
Nein, Kindergeschrei wird im Haus nicht zum Problem werden. Die Einziehenden – manche haben zwei und mehr Kinder oder erwarten eins. Peter wird bald Freunde finden. Schon erkundet er das Terrain rundum und sucht nach der Schule. Dort wird er zum Herbstbeginn die Zuckertüte überreicht bekommen. „In der Schule ganz oben nisten Adler“, berichtet er aufgeregt. So ganz stimmt das nicht. Aber brütende Falken, wie sich erweist, im Giebel einer Zehnklassigen Polytechnischen Oberschule – das ist schon was.
Die Hausversammlung im Freien verspricht Gutes, obwohl oder weil der Antrag auf Umwandlung der Wüstung hinter dem Neubau in einen Parkplatz zugunsten eines Kinderspielplatzes abgeschmettert wird. Mugele nutzt die gute Laune der Runde und lädt die Versammelten zum Umtrunk beim chinesischen Papagei ein. Das hast du dem Ziegler abgeguckt, gesteht er sich: Den Stier bei den Hörnern packen! Erst neulich hat der, als heftig um die Nachtschicht gestritten wurde, einer Gruppe von Stahlwerkern in Hennigsdorf geraten: „Eure Frauen verstehen das nicht? Verfluchen das Werk und euch, wenn ihr morgens müde heimkommt? Ladet sie doch, mit aller Vorsicht, mal ein zu einem Abstich. Was meint ihr, wie das Eindruck macht! Sie werden stolz auf euch sein, jedenfalls werden eure Frauen euch besser verstehen.“ Und der Parteisekretär stimmt dem Gast aus dem Hohen Haus zu, natürlich stimmt er zu, der Betriebsleiter nickt und meint: „Wir können es mal versuchen.“
Und die Mitbewohner in der Fontanestraße 40 greifen sich eine Stulle mit Zwiebelschmalz, langen nach einem Gläschen Nordhäuser Korn, die Frauen nach Kirschlikör. Wie von allein gruppieren sie sich um den Papagei. „Also“, sagt Mugele, „seid willkommen beim größten Schreihals des Wohnblocks – Koko. Ich frage mich, ob ihr den grünen Chinesen aushalten werdet, den Lebensretter? (Zustimmung rundum.) Details erzähle ich ein andermal. Zum Wohl. Auf gute Nachbarschaft.“ Die Gläser klirren und es sieht so aus, als ob es wegen des Papageien niemals Ärger geben könnte. Der aber kommt schneller als gedacht.
Zwei Urlaubswochen am Ruppiner See stehen an. Die Mugeles überlegen, wem die Ehre angetragen werden kann, einen Lebensretter zu betreuen. Auf gut Glück entscheiden sie sich für das Ehepaar im Erdgeschoss, ruhige Leute mit zwei netten Mädchen, ermahnen die Familie auch, den Vogel nicht aus dem Käfig zu nehmen und frei fliegen zu lassen.
Die Atempause im Ruppiner Land tut gut. Vorsommer in Gildenhall. Es lockt der See. Klar konturiert die Liebesinsel . Daran rudert die Familie vorbei, zu genau erinnert sich Konstantin der insularen Mückenschwärme manchen Kindertages. Alt-Ruppin ist das Ziel. Guten Tag, lieber Rhin mit deinen lauschigen Angelplätzen.
Viel zu rasch geht es nach Berlin zurück. Die Familie parterre links ist verstört. Koko hat Schaden angerichtet: neun Büchern hat er den Rücken heruntergerissen und mit der scharfen Schnabelspitze nicht wenige Buchseiten gelocht - in Kügelgens Lebenserinnerungen eines alten Mannes, in zwei Bänden Brehms Tierleben, im Gedichtband Terzinen des Herzens und bei fünf weiteren Kostbarkeiten. „Regle du das, Konstantin“, sagt Isa, „es ist peinlich.“
Tatsächlich ist die Aufregung groß und legt sich erst, als die Tante von der Versicherung, sie wohnt in der Nachbarschaft, den Schaden in Augenschein nimmt. Mugele erläutert: „Hier, im Haushalt der Nachbarn, hat dieser Papagei ohne unseren Auftrag und unser Wissen Schaden angerichtet; Bücherschaden – die Zeugen sind anwesend.“ Flüchtig blättert die Frau in der Kladde mit den Vorschriften und entscheidet: „Die Pflegefamilie ist durch Sie rechtzeitig gewarnt worden. Für so viel Unachtsamkeit können wir nicht aufkommen, leider.“
Die zwei Mädchen stehen bedrippt. Mugele erbost sich: „Gute Frau, wissen Sie eigentlich, wen Sie da vor sich haben? Der Verursacher ist eindeutig Lord Derbys Edelsittich, aber Geld besitzt er nicht.“
„Das entscheiden wir ohne Ansehen der Person“, sagt die Versicherungsdame. Konstantin, die Police aus der Haftpflichtakte zottelnd, entgegnet: „Wegen dieses Papageien sind wir in Ihrer Versicherung, freilich egal aus welchem Geblüt. Wir kündigen, wir kündigen sofort.“
„Nun beruhigen Sie sich doch, Herr Mugele“, begütigt die Beauftragte der Deutschen Versicherungs-Anstalt. Sie entnimmt ihrer Tasche ein Formular. „Fülln se mal erst aus“, sagt sie, „vielleicht lässt sich wat machen.“
„Vielleicht, vielleicht!“ Missmutig nimmt Mugele das Blatt und beginnt auszufüllen, wobei sich seine Laune rasch bessert. Der Text ist logisch und verständlich – wann, wo, was (notfalls mit Beiblatt), Zeugen, voraussichtliche Schadenshöhe? „Schadenshöhe weiß ich nicht“, sagt Mugele. „Die Bücher müssen zum Binder. Die Terzinen des Herzens, Sie sehn es selbst, sind so durchlöchert, da hilft nur Schmerzensgeld.“ Zuletzt ist noch eine kniffliche Frage zu beantworten: Was wurde getan, damit der Vorgang sich nicht wiederholt? Die Versicherungsvertreterin, inzwischen hat sie sich neben Mugele gesetzt, guckt gespannt. Sie hat im Rahmen zweier interner Maßgaben zu agieren: 1. Abwimmeln zugunsten des Volksvermögens, aber keine Kunden vergraulen. 2. Sind die Fragen glaubhaft beantwortet, großzügig sein bei Lappalien. – Ja, was wurde getan, damit sich … Mugele trägt ein: Der Papagei wurde belehrt. – Die Firma ist es zufrieden und – zahlt.
Im Sozialismus ist niemand zufrieden, wenn er belehrt werden soll, und schon gar nicht, wenn sich die Königsebene betut. Auch sind grübelnde, gar philosophierende Parteiführer was Rares im Land. Da fällt Ziegler im Kreis der Pragmatiker auf. Auch in der überraschend angesetzten Diskussionsrunde des Sekretariats – diesmal ohne Thema und in erweitertem Kreis, die notorischen Raucher seitlich unter einer absaugenden Deckung versammelt – stört er mit seinen stolpernd vorgetragenen Thesen zu den Intentionen des jungen Marx. Es gibt Geraune, sodass der Vorsitzende Ulbricht mit einem Stift auf die Tischplatte klopft und Aufmerksamkeit verlangt. „Jeder Genosse hat das Recht, seine Überlegungen vorzutragen.“ Gemeint sind die Könige im Hohen Haus, es sind ja die Unterkönige. Sie kommen aus Bereichen wie Ökonomie, Landwirtschaft, Außenpolitik, mächtige Herrscher mit Hinterland. Die Künste haben, in den Augen der Unterkönige, ein schier ewiges Schicksal: sie bleiben zurück. Und die Zeitungen schreiben es so. Dabei hätten doch gerade die Künste voran zu preschen und Anstöße zu geben. Nein, sie stören nur und sind anstößig. Daran haben Dispute und Konferenzen, zumal die in den Chemieschwaden von Bitterfeld erfolgten, auch die Disziplinierungsversuche danach, nichts ändern können. Die Irrungen, die Missverständnisse wachsen.
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