1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 „Die Untaten der Noske und Zörrgiebel sind unbestreitbar, dennoch war dieser Beschluss sektiererisch. Er traf auf eine aus Erfahrung gespeiste Grundstimmung in der Arbeiterklasse. Ich nehme ein Beispiel: Ein Fabrikarbeiter, er muss nicht Kommunist sein, wehrt sich gegen die Kürzung seines Lohns, die Betriebsleitung entlässt den Mann, der den Arbeitsfrieden gestört hat. Der Betriebsrat stimmt zu – ein Sozialdemokrat. Der Arbeitslose geht auf die Straße und empört sich, der Polizist zieht ihm den Gummiknüppel über und nimmt ihn hopp – ein Sozialdemokrat. Ein Richter verknackt ihn. Wer schließt den Gefangenen ein? – Doch der Beschluss war grundfalsch.“ – Das Flugzeug verliert an Höhe. Im Landeanflug liegt Moskau. Dort wurde der Beschluss gefasst.
Denkt Mugele an die Dienstreise im Frühsommer 60, Reise im Schatten des Professors, sieht er draußen eine quirlige besonnte Stadt. In den Sälen geht es gedämpft zu. Professor Ziegler beabsichtigt, seinem Mitarbeiter den Stadtkern zu zeigen, wenn das offizielle Programm absolviert ist. Schwanensee im Bolschoi ist die Vorspeise. In seiner Erinnerung sieht Mugele eine energische, elegante Blondine auf Ziegler und ihn zutreten, rund fünfzig Jahre alt, Ministerin Furzewa. Eine mächtige Frau, die einzige in dem von Männern okkupierten Präsidium des ZK der KPDSU. Und Sekretär des ZK ist sie auch. Die deutschen Gäste bittet sie an einen grün betuchten Arbeitstisch. „Jekaterina Alexejewna“, sagt Professor Ziegler auf Russisch, „im Namen unserer Parteiführung und der Regierung möchte ich Genossen Chruschtschow und der KPdSU nochmals für das Verständnis und alle Unterstützung danken: Kurt Sanderling kehrt nach 24jähriger Emigration in sein Heimatland zurück und wird dort eine bedeutende Aufgabe übernehmen.“ – „Das geht schon in Ordnung“, sagt die Ministerin, was Mugele noch grad versteht. Und kein Wort mehr über Kultur, was Mugele nicht versteht. Vielmehr parlieren die Zwei über platte Politik, über die ansteigende Zahl der Flüchtlinge von Ost nach West. Und Ziegler zieht die FAZ aus der Tasche und gestikuliert heftig mit der Zeitung in der Hand.
Die Begegnung mit Kurt Sanderling war und bleibt für Mugele der Lichtpunkt, wiewohl sie im sterilen Ambiente eines Gästehauses stattfindet. Dumpfes Licht, das ist vornehm, tröpfelt durch Vorhänge. Kurt Sanderling ist gut aufgelegt und konzentriert zugleich. Sendbote und Dirigent umarmen sich mit russischer Herzlichkeit. Sanderling steht am Wendepunkt zweier Lebensepochen, das ist aufregend. Aber der Emissär macht es ihm leicht, nennt die Freude, die seine Zusage in Berlin geweckt habe, auch bei ihm, Ziegler. Die Entscheidung, das Pult in Leningrad aufzugeben, sei weitsichtig, sagt er. Ein Deutscher, so gut er sei, werde dort nie die erste Geige spielen. Und fragt nach den Wünschen und Erwartungen des Übersiedlers für sich und die Familie … Das alte Pankow sei eine angenehme Vorstadt. Vielleicht werden wir Nachbarn? – Es läge eine Einladung zu einem Gastdirigat beim London Philharmonic Orchestra vor, sagt Sanderling, solle er zusagen? – „Dagegen spricht nichts“, meint Ziegler, „aber antworten Sie besser nach der Übersiedlung, vom neuen Wohnsitz her.“
Mugele blickt fasziniert in das belebte Gesicht des Dirigenten. Er freut sich schon auf dessen erstes Berliner Konzert, möglicherweise ist eine Schostakowitsch-Symphonie dabei. – Zieglers Frage, ob Sanderling Wünsche gegenüber dem in Aussicht genommenen Berliner Sinfonieorchester hege, beantwortet der bescheiden: „Ich freue mich auf alle, die dort musizieren. Wir wollen von unten auf miteinander arbeiten.“ Das berührt Mugele sehr.
Der Gang durch Moskaus zentrale Straßen und Plätze an der Seite des Einheimischen ist ein Kontrastprogramm. Kreml und Roter Platz, das Denkmal für Majakowski, die alten Sperlingsberge längs über der Stadt mit der Lomonosssow-Universität – Mugele kann nicht genug davon gezeigt und erläutert bekommen. Auch dem jungen Begleiter vom Personenschutz macht der Stadtgang Spaß. Mugele zückt seinen recht primitiven Fotoapparat und schießt Bild um Bild, bis der Professor anmerkt: „Das alles ist oft und schon viel besser fotografiert worden, als dir das möglich ist. Die Menschen musst du sehen – ihnen musst du ins Gesicht blicken.“
Zu Dritt gelangen sie zu einer vormalig orthodoxen Kirche, die durch Umwidmung zur Bibliographischen Abteilung der Staatsbibliothek für Auslandsliteratur dem Zerstörungswahn früher Sowjetjahre entging. Hier, im Refugium seiner einstigen Strafversetzung, begrüßt Frau Margarita Rudomirowa, die Leiterin, den Professor aufs Herzlichste. Ein guter Tee wird gebrüht, Erinnerungen flattern herüber und zurück. Und Mugele entgeht nicht der Stolz, mit dem die Direktorin auf den Mann blickt, der ihr 1935 heikel als Mitarbeiter zugeteilt ward.
Später verabschiedet sich Bernhard Ziegler von den zwei jungen Wegbegleitern, um seine vormalige Gattin, eine Russin, zu besuchen. Dorthin müssen Mugele und die Sicherheit nun wirklich nicht folgen.
Frau und Kinder sollen ein Mitbringsel aus Moskau erhalten. Die Zwei machen sich auf ins GUM . Und was entdeckt Konstantin? Ein wunderschöner großer Papageienkäfig, M ade in GDR, blitzt auf. Wie würde der Chinapapagei sich wohlfühlen, wenn er sich, nach des Tages Schabernack, da rein zur Nacht zurückziehen könnte! Und grad dieses Exportgut aus der Heimat kann er, Greenhorn in der Kommission für Erleuchtung, dem Vaterland aller Werktätigen nicht entziehen, wiewohl er ahnt, was Diplomaten der Welt im Dienstgepäck so alles fortschleppen.
Und wie leben die Papageien in der Hauptstadt der Sowjetunion? Mugele zieht es mit Macht in den Zoologischen Garten. Er wird dort nicht glücklich, verfehlt auch die Papageien. Ein alter Zoo. Gewiss, der russische Bär, er hungert nicht, aber hier fehlt ihm Hagenbeck’sche Freiheit.
Die Familie daheim erhält einen Beutel Pralinen aus der Schokoladenfabrik Rot Front. Auch Koko freut sich über die Rückkehr Konstantins, zuspelt am Ohr, guckt als frage er: Hast du auch mir was mitgebracht? Das sind Augenblicke, in denen Konstantin eine strapazierte Moskauer Auskunft in Zweifel zieht – denn Papageien sind den Menschen viel näher, als diese meinen.
Solche Exkursionen gehen zulasten Isas. Auch Peter und der Papagei leiden. Und immer dann fallen Entscheidungen, die Isa treffen und ausbaden muss. Kurz: der Möbelwagen ist schon bestellt, das fertig gebaute Genossenschaftshaus muss bezogen werden. Die beiden Kinder sind für einen Tag bei den Großeltern. Dass auch der Papagei von der Hektik des Räumens möglichst verschont bleibe, stellt ihn Konstantin mit dem Käfig auf den Kachelofen. Die Transportarbeiter klettern fluchend die hohen Stufen der engen Hinterhaustreppe empor und beruhigen sich ein wenig, als sie die Teller mit dem kräftigen Frühstück und auf dem Ofen den schönen Vogel erblicken. Fünf Mann haben plötzlich Zeit, klettern nacheinander auf einen Schemel und suchen dem klugen Tier ein paar dumme Wörter beizubringen. So kommt man ins Gespräch. Und dann flutscht es. Den Vogel aber unterschätzen alle, auch Konstantin. Als die Bude schließlich leer geräumt und gefegt, auch die peinliche Frage schroff beantwortet ist, ob Mugele ‚die olle dicke Bibel‘ noch brauche, als fast alle unter der Platane zur Abfahrt nach Wilhelmsruh versammelt sind, werden die Möbelräumer nun doch unruhig. Zeit ist Geld! – Der Papagei muss noch geholt werden. Doch den Vogel haben die ungewohnte Geschäftigkeit, danach die Leere und absolute Stille so verstört, dass er sich mit übergroßer Anstrengung durch die Käfigstäbe gezwängt hat. Nun will er sich nicht mehr einfangen lassen. Unten hupen die bibelfrommen Möbelfahrer, und man kann nicht einmal das Fenster aufreißen und hinunterschreien: „Geduld, ich werde den Bager schon kriegen.“
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