Während sein Vater gedankenverloren in dessen Haus saß und grübelte, machte Ulfmarr sich immer größere Sorgen um ihn. War er noch imstande diese Stadt und ihre Bewohner zu führen? Sicher, was mit seinem älteren Bruder Gunnrik geschehen war, war für seinen Vater nicht begreiflich und sicher auch schmerzlich. Aber das war nun schon Monate her und so sehr sie sich bemüht hatten, sie hatten nichts herausfinden können. Je mehr Zeit verstrich, desto geringer wurde die Chance überhaupt noch etwas in Erfahrung zu bringen. Das alles setzte dem Fürsten in seinen alten Tagen noch zusätzlich zu.
Ulfmarr beschloss mit einem Karren zur Feddersen Wierde zu fahren. Eine Wurtensiedlung direkt am Meer und nordwestlich von Fabiranum. Es war ein Dorf, dass sich fast ausschließlich mit Handwerk und Viehzucht beschäftigte, weniger mit Ackerbau.
Mit einer Größe von beinahe vier Hektar Land, rund sechsundzwanzig Wohnstallhäusern und dreihundert Einwohnern ein nicht gerade kleines Wurtendorf, dessen Höfe halbkreisförmig um einen großen zentralen Platz angeordnet waren. An der Spitze der Siedlung befand sich ein Herrenhof, der mehrere Betriebe unterschiedlicher Art und eine große Versammlungshalle besaß, in der das Dorf zusammen kam, wenn es etwas wichtiges zu feiern oder zu besprechen gab. Die Versammlungshalle wurde auch für das Thing genutzt, um wichtige Angelegenheiten zur Abstimmung zu bringen, wie auch zu religiösen Zwecken.
Die Häuser der Höfe waren gewöhnliche Wohnstallhäuser, wie sie auch in den benachbarten Wurtensiedlungen, etwa Fallward oder Barward bekann waren.
Sie waren in drei Bereiche unterteilt. Einen Wohnteil, in dem etwa fünfzehn bis zwanzig Menschen Platz hatten, einem Wirtschaftsraum, in dem Arbeitsgerät gelagert wurde und einem Stallteil, der, je nach größe des Hauses, genügend Platz für zwölf bis dreißig Rinder bot. Hier lebte nicht nur die Familie des Bauern unter einem Dach, sondern auch Sklaven und Mägde. Zentral im Wohnteil des Hauses, der etwa halb so groß war, wie der Stallteil, befand sich die Herdstelle. Schräg über der Herdstelle fand sich im Dach ein Loch, durch das der Rauch abziehen konnte. An den Seiten der Wände waren die Strohlager, auf denen die Menschen schliefen. Privatsphäre gab es keine.
Neben den Wohnstallhäusern gab es auf den Höfen noch einen Vorratsspeicher. Er war auf Pfählen errichtet, damit die Vorräte im Falle einer Flut sicher waren.
Rings um die Siedlung standen den Menschen noch etwa dreihundert Hektar Land zur Verfügung, welches aber größtenteils als Weideland für das Vieh und nur zu einem sehr kleinen Teil als Ackerland genutzt wurde.
Und Vieh gab es viel. Etwa fünfhundert Tiere, darunter Rinder, Schafe, Pferde, Schweine, aber auch Hunde, die auf den Weiden die Tiere zusammen hielten und sie vor Räubern schützten. Sie lieferten Fleisch, Felle, Wolle, Knochen und Horn. Knochen und Horn wurden vor allem für die Herstellung von Arbeitsgerät, Gefäßen oder Kämmen genutzt.
Der Weg dorthin war beschwerlich, besonders wenn noch ein Karren mit im Spiel war. Er bestand nicht nur aus festem Marschenland, sondern auch zu einem großen Teil aus Moor. Bohlenwege aus Eichenholz bildeten zwar sichere Passagen über die sumpfigen Gebiete, aber mit dem breiten Karren genügte ein einziger Fehltritt um festzustecken. Er kam auch an der zerstörten Hütte des Einsiedlers vorbei. Ulfmarr beschloss Halt zu machen und sah sich die verbrannten Überreste eine Weile an. Er fragte sich immer noch, wie das alles nur geschehen konnte und weshalb der Einsiedler nicht zurückgekehrt war. Sie hatten hier wirklich alles durchsucht und keine menschlichen Überreste gefunden. Es half aber nichts, er musste weiter.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der die Sonne aber
ihren Stand nicht großartig verändert hatte, sah er endlich das Ziel vor Augen: Feddersen Wierde.
Ulfmarr kam her, um einige Bestellungen abzuholen, die er bereits vor Wochen den Handwerkern hier aufgegeben hatte. Seine Ziele waren unter anderem die Weberei, die Schmiede, ein Händler für Glasgefäße und Tongeschirr und außerdem benötigte er noch ein paar Kämme aus Knochen, sowie Leder aus der Gerberei.
Wer etwas benötigte, der wusste, dass es hier zu bekommen war. Auch andere Wurtensiedlungen schickten regelmäßig Männer oder Frauen zur Feddersen Wierde. Angefangen bei Aslum im Norden, über Mulsum, Fallward und Barward im Süden, bis hinunter nach Dingen. Betrieben wurde hier ganz normaler Tauschhandel. Benötigte jemand beispielsweise eine Schwertklinge, war diese mit einigen Rindern der Gegenseite auszugleichen, da die Beschaffung des Eisens für das Schmieden einer solchen Klinge teuer war und dieses oft erst über den Seeweg herangeschafft werden musste. Ein Schwert diente schließlich im Notfall der Verteidigung des eigenen Lebens und da Rinder in diesen schwierigen Zeiten für viele eine Lebensgrundlage bildeten, war eine Schwertklinge so kostbar, wie fünf oder sechs Rinder. Für zwei Ballen Stoff glich wurden beispielsweise ebenso viele Getreidesäcke ausgeglichen. Es wurden immer die Dinge getauscht, welche von der Gegenseite eines solchen Handels benötigt wurden.
Den Menschen hier ging es gut. Ihre Tage waren geprägt von harter Arbeit doch sie waren zufrieden. Jeder von ihnen hatte sein Auskommen und trotz der harten Arbeit und der Anstrengungen sah spielten hier auch Kinder und es gab immer jemanden, der Zeit hatte Späße mit ihnen zu treiben. Jetzt, wo endlich die Sonne schien, konnte Ulfmarr den Blick Richtung Meer genießen. Eine beinahe gespenstische Stille lag über den seichten Wellen, die sich mit gleichmäßigem Rauschen am Strand brachen. Hier zu sein ließ Ulfmarr für eine kurze Zeit die Sorgen um seinen kranken Vater vergessen.
Während die Zeit verstrich, die Sonne langsam tiefer sank und Ulfmarr sich Tag für Tag um die Belange Fabiranums kümmerte, saß Valdr noch vor seinem Feuer und starrte hinein.
Eigentlich war der Sohn längst an die Stelle des Vaters getreten, seit dieser sich nur noch zurückzog. Gab es wichtige Entscheidungen, wie beispielsweise Reparaturarbeiten an Gebäuden oder den wichtigen, schützenden Eichenpalisaden um die Stadt herum, so war es Ulfmarr, der darüber entschied, was zu tun war. Gerade das Erneuern der Eichenpalisaden im feuchten Moorboden war nicht nur mit viel Arbeit, sondern auch mit hohen Kosten verbunden. Er musste den Seehandel koordinieren, da regelmäßig Schiffe mit ausländischen Waren, wie beispielsweise Glasgefäße im Hafen eintrafen und dafür sorgen, dass mit solchen Waren auch vorsichtig umgegangen wurde. Die Getreidespeicher der Stadt mussten regelmäßig kontrolliert werden. Sich um Streitigkeiten kümmern, Gericht zu halten, Verhandlungen zu führen und für Händler, die über Land zu ihm kamen sichere Passagen zu schaffen, sowie diese instand zu halten zählten auch zu seinen Aufgaben.
Am Abend bekam Valdr Besuch von seinen Töchtern.
Vighild kniete sich neben ihren Vater.
>>Vater bitte.<< flehte sie verzweifelt. >>Bitte sag doch etwas. Du bist für niemanden mehr zu sprechen, lange schon bleiben alle Geschäfte an unserem Bruder hängen. Sag uns bitte, was wir tun sollen.<<
Gerdar kam ebenfalls dazu, nahm die Hand ihres Vaters und drückte sie sanft >>Wir wissen, dass die letzten Monate nicht einfach waren. Aber so, wie es jetzt ist, kann es nicht weiter gehen.<< sagte sie ruhig zu ihm >>Sonst wird ein neuer Fürst gewählt.<<
Valdr reagierte plötzlich und sah Gerdar ruhig an >>Sieh doch ins Feuer. Da...da ist er. Er redet mit mir, wisst ihr<< der einst so starke Fürst drehte er sich um und blickte wieder starr ins Feuer, die Augen weit aufgerissen. Er lächelte und nickte, als würde aus dem Feuer tatsächlich jemand zu ihm sprechen. Manchmal bewegte er auch die Lippen, als wolle er antworten. Doch ein Wort kam über seine Lippen.
Читать дальше