Plötzlich blitz ein Messer vor seinem inneren Auge auf. Ein blutiges Messer. Sein Puls schnellt in die Höhe und sein Kopf scheint zu bersten. Er hält sich die Ohren zu um das Trommelfeuer zu unterbrechen, das sein Gehirn martert. Wie konnte es geschehen? Was hat ihn angetrieben? Woher hatte er das Messer? Warum Tanja? Alles wegen einer Ikone, wegen DIESER Ikone?
Alex öffnet die Augen und starrt auf die Madonna. Ihr Blick ist emotionslos, streng. Sie schaut geradeaus, neben ihm vorbei in die Unendlichkeit. Es bleibt ihr Geheimnis, was die Entfernung der Übermalung enthüllen wird. Ist die Ikone wirklich so wertvoll, dass sich ein Mord rechtfertigen lässt?
Tanja sagte, die Ikone sei kostbar. Und sie könnte mein Leben in Gefahr bringen. Glaubte sie, dass mir dasselbe Schicksal bevorstehen würde wie ihr? Kannte sie das originale Bild unter der Übermalung?
Jetzt ist Alex zu aufgeregt, um an der Ikone zu arbeiten. Die Stimmung ist vorbei. Er bedeckt das Bild mit einem Tuch, geht zum Weihrauchkessel, der zwischen den Ikonen von der Decke hängt, und setzt ihn in Schwingung. Qualm entweicht den Öffnungen. Der Weihrauch ist für ihn eine Droge. Er beruhigt ihn und steigert seine schöpferischen Kräfte. Deshalb ist er stets darum bemüht, die Glut im Innern am Glimmen zu halten.
In diesem Augenblick klopft es an der Türe.
Das muss Claudia sein! Sie wird meine fahrige Stimmung sofort bemerken.
Alex setzt sich geräuschlos auf den Schemel und hofft, dass die Frau sich wieder entfernt.
Es könnte ja sein, dass ich nicht da bin.
Das Klopfen wird energischer.
«Alex, ich weiß, dass Sie da sind. Ich spüre Sie. Bitte öffnen Sie die Türe.»
Sie spürt mich?
«Alex, Sie wollen mich nicht zurückweisen, oder? Ich habe den Wein bei mir.»
Der Ikonenmaler schleicht zur Türe. Er hört die beschleunigten Atemzüge seiner neuen Nachbarin. Seine Hand gleitet zum Türriegel, schiebt ihn zur Seite, dann drückt er die Klinke.
Claudia hält zwei Gläser tiefroten Weins in den Händen. Sofort fällt Alex wieder das Spezielle ihrer Augenstellung auf. Durch die dezent aufgetragene Schminke wirkt die Asymmetrie noch tiefgründiger, beinahe verführerisch. Der Ikonenmaler findet keine Worte.
Sie schiebt sich neben ihm vorbei und stellt die Gläser auf den Tisch mit dem Blattgold. Die Spiegelung überzieht den Wein mit einem goldenen Schimmer. Dann setzt sie sich auf den Schemel vor der Staffelei. Alex holt einen zweiten Stuhl, sodass sie sich gegenübersitzen und gegenseitig mustern.
«Da bin ich. Haben Sie mich nicht erwartet?»
Claudia blickt sich im Raum um. Ihre Augen erglänzen in freudiger Überraschung. Alex ist peinlich berührt.
«Toll, einfach toll. Das muss ein Vermögen wert sein. Ich habe noch nie so viele Ikonen auf einmal gesehen. Diese Farben! Sie scheinen die Bilder lebendig zu machen, als könnten die Heiligen aus den Rahmen springen. Sind Sie ein Maler? Ein Künstler?»
«Ich restauriere Ikonen. Ab und zu male ich selbst.»
«Sie müssen echt begabt sein, Alex. Ich ... Kommen Sie, wir stoßen an. Auf Ihre Kunstwerke ... und auf Sie.»
Claudia reicht ihm sein Glas.
«Halten Sie das Glas am Stiel, dann klingt es schöner.»
Es klingt nicht nur schön. Der Klang widerhallt tausendfach. Die von der Decke hängenden Ikonen geraten in Schwingung, pendeln, kreisen ... und tragen die Echos durch den ganzen Raum. Der Ikonenmaler hört Glocken unzähliger Kathedralen. Claudia kann sich auf dem Schemel kaum halten vor Begeisterung. Sie strahlt über das ganze Gesicht.
Irgendetwas gefällt Alex an der Frau. Vielleicht ist es ihre Begeisterungsfähigkeit. Ihre Direktheit. Oder ist es die Faszination, die ihren Augen entspringt?
Sie hat die Glocken gehört, ich bin ganz sicher. Wie ist es möglich, dass sie meine Welt teilt?
Meistens sehen die Leute in ihm einen Spinner, glaubt Alex. Aber Claudia ist anders. Sie kann ihn fühlen, sein Inneres wahrnehmen.
Wir sind Seelenverwandte.
«Ich habe Schizophrenie.»
Schweigen.
«Nicht jetzt, aber grundsätzlich.»
«Was heißt das? Haben Sie nun Schizophrenie oder nicht?»
«Im Allgemeinen schon. Aber ich habe gute Phasen, wie heute, und vielleicht morgen. Mein Psychiater sagt, ich könnte eines Tages geheilt sein.»
«Ich habe Ikonomanie. Mein Psychiater sagt, das sei unheilbar.»
Claudia berührt seine Hand. Es ist eine freundliche Geste, nichts Geschlechtliches. In die Bewunderung mischt sich Traurigkeit. Sie hat noch nie von Ikonomanie gehört. Nur von Manie. Und das klingt bedrohlich. Sie ist sich nicht sicher, ob Alex ihr die Wahrheit sagt oder sich ihr zuliebe eine Diagnose andichtet. Jetzt ergreift sie die Hände ihres Nachbarn vollumfänglich. Sie streichelt sie. Plötzlich zieht sie ihre Hände zurück.
«Entschuldigen Sie. Es bedeutet nichts. Die Wahrheit ist, dass ich Sie so besser spüre. Das ist ein Teil meiner Krankheit. Man sagt, schizophrene Menschen seien gläsern. Ihre Seelen lägen herum wie die Waren im Einkaufszentrum. Zudem scheuten sie sich nicht, in die Seele anderer hineinzuschauen. Ich weiß, das kann für Sie beängstigend sein. Wir sind einfach offen für alle und alles, vielleicht zu offen. Es hat etwas mit Toleranz zu tun. Manchmal sind wir überschwänglich, vor allem wenn wir glücklich sind. So wie ich heute.
Ich mag Sie, Alex. So wie Sie sind. Einfach so. Es kümmert mich nicht, ob Sie krank sind oder nicht. Und ich will Ihnen keine Angst machen. Nur ..., ab und zu eine kleine Berührung. So sind Sie mir nah. Mir ist es wichtig, die Menschen auf allen Ebenen wahrnehmen zu können.
Wie steht es mit Ihnen? Wie lebt man mit einer Ikonomanie?»
«Für mich ist es keine schwere Krankheit. Ich lebe ganz gut mit meiner Diagnose. Nur mein Psychiater findet, dass ich mich nicht ausschließlich mit Ikonen beschäftigen sollte. Er meint, die vielen Heiligenbilder verstopften die Adern meines Gehirns. Aber seit meine Frau mich verlassen hat, suche und finde ich Trost bei ihnen. Sie sind so etwas wie meine Familie. Ein Ort der Besinnung, der Begegnung, wenn Sie so wollen.»
«Ihre Frau hat Sie verlassen? Für einen Anderen?»
«Nein, nein, Sie haben mich falsch verstanden. Sie hat mich unwillentlich verlassen. Ich meine, Sie hat ihr Leben durch meine Schuld verloren, durch meine Hand sozusagen.»
«Sie haben Ihre Frau umgebracht?»
«Das ist die gängige Meinung. Der Therapeut spricht zwar von einem erzwungenen Suizid. Vielleicht wissen Sie, was das ist.»
«Ja, Sie haben Ihre Frau in den Freitod getrieben. Und ... stimmt es?»
«Es könnte sein. Aber da ist dieses Messer. Ich bin mir nicht sicher, wer es benutzt hat, sie oder ich.»
«Läuft keine polizeiliche Untersuchung?»
«Das Problem ist, dass man ihre Leiche noch nicht gefunden hat. Und wegen meines aktuellen geistigen Zustandes kann ich mich nicht erinnern, was wirklich geschehen ist. Auf jeden Fall ist sie nicht mehr hier und ich quäle mich mit Schuldgefühlen.»
«Wo ist das Messer, das Sie soeben erwähnt haben?»
«Es schwirrt in meinem Kopf herum. Was mich beunruhigt, ist das Blut auf seiner Klinge. Und was mich noch mehr beunruhigt ist, dass es noch ein zweites Messer gibt, das auch blutig war. Es lag neben mir, nachdem ich niedergeschlagen wurde. Entschuldigen Sie, ich habe vergessen zu erwähnen, dass in unmittelbarer Nähe des zweiten Messers eine Leiche lag. Deshalb glaube ich, dass ich ein Mörder bin.
Sie haben nichts zu befürchten. Obwohl es sich bei der Leiche um eine Frau handelt, scheint mir Ihr Leben nicht in Gefahr zu sein. Sie haben ja nichts mit Ikonen zu tun.»
Claudia scheint etwas ratlos zu sein. Sie wippt auf dem Schemel hin und her. Dann erhebt sie sich und stellt sich vor die Staffelei.
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