Die Messermorde sind keine Hirngespinste, Eugen. Sie suchen mich und sie finden mich. Ich bin wehrlos gegen sie. Wurde ich nicht neben Tanjas Leiche aufgefunden? Und meine Frau Natalie, lag sie nicht in ihrem Blut? Es gibt sehr wohl Messer und Tote in physischer Nähe zu mir. Dass mich Delikte verfolgen, ist nicht meine Einbildung. Sie gehören zu mir.
Ob ich ein Mörder bin oder nicht, werden wir sehen. Man hat mir eine DNA-Probe abgenommen. Irgendwo an der Leiche oder am Messer muss der Täter Spuren hinterlassen haben.»
«Langsam frage ich mich, Alex, ob du den Psychotherapeuten spielst. Willst du auf meinem Stuhl Platz nehmen?»
«Nein, ich arbeite lieber mit den Händen und erschaffe mir Kraft meines Körpers meine eigene Welt. Es ist die urtümlichste Art, sich zu verwirklichen.»
«Irgendwie muss ich dich bewundern. Du erschaffst aus Handwerk Geistiges, begegnest nach einem Mord der Getöteten und machst ein Messer zur Nabelschnur zweier Taten. Ich finde, dein psychischer Zustand nimmt brillante Formen an, Alex. Aber du weißt, was deine Frau angeht, bin ich nicht deiner Meinung. Wir werden ein anderes Mal darüber sprechen. Ich wurde nämlich gebeten, einen Diskurs über die Beziehung zwischen Ikonomanie und den Abgründen der menschlichen Seele zu halten. Und mein Vortrag vor der Gesellschaft für sakrale Mystik beginnt in exakt fünfundzwanzig Minuten.»
«Ich wünsche dir viel Erfolg.»
Alex bleibt lange im Sprechzimmer des Professors sitzen. Die Gedanken jagen ihn. Das Gespräch mit dem Psychiater hat nicht viel gebracht. Er fühlt sich keinen Deut besser. Die Ungewissheit nagt immer mehr an seinem Verstand. Was ihn am meisten beunruhigt, ist das wiederholte Aufblitzen der Messerklinge in seinem Kopf. Hier muss es einen Zusammenhang zu den Ereignissen geben. Kein Gehirn kann etwas speichern, das nie stattgefunden hat. Keine Datenplatte speichert Bits, die nicht eingegeben wurden. Auch Erinnerung ist nichts anderes als neuraler Transport von Impulsen.
Wie hat Eugen die Messermorde bezeichnet? Als fremdartige Ideen? Wie kann ein Psychiater Ideen als fremdartig bezeichnen, wenn sie dem menschlichen Gehirn entspringen? Für ihn, Alex, sind die Messer die Instrumente, die sein Leben zerschnitten haben. Unabhängig davon, ob sie zum Morden benutzt wurden oder nicht. Auch wenn sein Erinnerungspegel auf null gesunken ist, steht für ihn fest, dass die Messer einen Bezug zur Wirklichkeit haben. Insofern muss er seinem Psychotherapeuten widersprechen.
Mit Eugens Ansichten kann er sich einfach nicht anfreunden. Ein Seelenklempner kann sich nicht ins Gehirn seines Patienten setzen. Er kann nur Symptome interpretieren. Niemals wird Alex die Arbeit an der Ikone unterbrechen.
Diese Arbeit ist für das seelische Gleichgewicht des Ikonenmalers zu wichtig. Ebenso erscheint ihm widersinnig, dass er die Bank am Fluss meiden soll. Dort hat das Unheil begonnen, jedenfalls das zweite. Er muss sich der Wirklichkeit stellen, will er seinem entleerten Gedächtnis auf die Sprünge helfen. Wo könnte das besser gelingen, als in der Nähe des Tatorts? Wer könnte ihm besser helfen als seine Halluzination der toten Tanja, wenn es denn eine ist?
4
«Ich habe auf Sie gewartet».
Die Stimme gehört der Frau mit dem blonden Haarschopf. Alex erkennt die Russin sofort. Sie sitzt auf seiner Bank. Er weiß nicht, ob er erfreut sein oder panisch werden soll. Ungefähr zehn Schritte vor der Frau hält er an. Er sieht sie von hinten. Sie hat einen Arm über die Rückenlehne geschlagen. Ein völlig normaler Anblick. Alex findet es allerdings merkwürdig, dass das Plätschern des Wassers nicht zu hören ist. Auch die Vögel sind verstummt. Er reibt sich am Ohr. Totenstille. Leichenstille, könnte man sagen.
Ich habe jetzt zwei Möglichkeiten. Nummer eins: davonrennen. Nummer zwei: mich der Wahrheitssuche opfern. Option Nummer zwei macht mir zwar Angst, aber sie ist die Favoritin. Wenn ich etwas für mein Gedächtnis tun will, MUSS ich mich auf die Bank setzen. Ganz nach dem Motto ‘retten, was noch zu retten ist’.
Es liegt nicht in seiner Natur, vor den Schrecken des Lebens zu fliehen. Also nähert sich Alex der Frau. Dabei hält er sie fest im Blick, um sicher zu gehen, dass sie auch wirklich sitzen bleibt. Sie bleibt. Je mehr er sich abmüht, die Gestalt nicht aus den Augen zu verlieren, umso mehr erscheinen ihm ihre Konturen unscharf. Und noch etwas fällt dem Ikonenmaler auf: Die Frau bewegt sich nicht.
Wenn man eine Tote sieht, die nicht mehr tot ist, und die wie eine Lebendige aussieht, dann fragt man sich, ob die Beobachtung in der Wirklichkeit angesiedelt ist. Aber das Knirschen seiner Schritte auf dem steinigen Weg beruhigt Alex: Die vertrauten Geräusche sprechen für das reale Hier und Jetzt.
Der Ikonenmaler setzt sich. Er schaut die Frau nicht an, sondern blickt geradeaus Richtung Fluss.
«Ich dachte, Sie wären tot.»
«Aber nein, mein Lieber. Können Sie sich nicht erinnern? Wir treffen uns nicht zum ersten Mal. Wo ist die Ikone?»
«Was meinen Sie damit?»
«Sie haben richtig gehört: wo ist die Tasche mit der Ikone, die ich Ihnen gegeben habe?»
«Sie haben mir eine Ikone gegeben?»
«Stellen Sie sich nicht dumm.»
«Sind Sie die Frau, deren Ikone ich in meinem Atelier restauriere?»
«Ich weiß nicht, wohin Sie die Ikone gebracht haben und was Sie mit ihr anstellen wollen.»
«Nun, ich werde Sie restaurieren, mein Bestes geben.»
«Tragen Sie Sorge, sie ist sehr wertvoll. Es kann sein, dass die Ikone Sie in Gefahr bringt.»
«Sie meinen, man könnte mich ermorden? Aber Sie sind doch selbst ... Nun gut, sagen wir es so: Ich bin einfach erstaunt, Sie hier lebend anzutreffen.»
«Ich weiß, man ist hinter mir her. Jetzt könnte man hinter Ihnen her sein.»
«Weil ich ... Sie ermordet habe?»
«Mein Lieber, ich sitze hier neben Ihnen auf einer Bank. Bin ich tot?»
«Das frage ich mich die ganze Zeit.»
«Sie sprechen mit einer Leiche? Also wirklich, Alex, jetzt übertreiben Sie.»
«Woher kennen Sie meinen Namen?»
«Nun, es könnte sein, dass ich ein Teil von Ihnen bin.»
«Sie ... in mir? Dann ...»
«Ich verstehe Ihre Sorge. Dann müssten Sie sich selbst umgebracht haben, nicht wahr?»
Die Frau bricht in hässliches Gelächter aus.
«Ehrlich gesagt, habe ich schon daran gedacht, der Qual meines Lebens ein Ende zu setzen, mich zu töten. Aber bis jetzt hat es nur die Anderen getroffen. Sie zum Beispiel.»
«Lieber die Anderen umbringen. Ja, das ist einfacher. Sie sind ein Feigling, Alex. Ich weiß nicht, wie es in Ihrem Inneren aussieht. Aber ich vermute, ziemlich armselig. Vielleicht verschlagen. Sie könnten tatsächlich ein Mörder sein! Ich werde mir nie verzeihen, Ihnen die Ikone anvertraut zu haben.»
Alex beginnt zu schwitzen. Seine Augäpfel tanzen Samba. Sie pendeln hin und her. Plötzlich krallen sie sich an der Frau fest und blicken ihr direkt ins Gesicht: Ja, es ist Tanja. Er erkennt sie. Wehrlen hat ihm das Bild der Leiche gezeigt.
Warum nistet sich eine Tote in meinem Leben ein? Woher kennt mich die Frau? Wie kann sie mich, ihren Mörder, kennen? Weil sie ein Teil von mir ist, wie sie sagt?
In diesem Moment bläst der Wind eine Sandwolke vom nahen Flussufer herbei. Alex reibt sich die Augen. Als er aufblickt, ist die Frau weg. Er sucht die Umgebung ab. Nichts.
Eines wird ihm klar: Sein Psychiater hat Recht. Die Frau ist eine Halluzination.
Sie ist tot, mausetot. Basta. Ein Teil von mir? So ein Unsinn! Ich müsste ja zur Hälfte gestorben sein. Bin ich das?
Nur ..., etwas ist seltsam: Wie soll die halluzinierte Tanja mir Dinge mitteilen, an die ich mich nicht erinnern kann? Am Tatort war keine Ikone. Entweder lügt die Halluzination, oder der Schläger hat die Tasche an sich genommen. Oder ... ich habe die Tüte mit der Ikone vor dem Mord in Sicherheit gebracht. In meinem Atelier?
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