1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 »Es gab mal eine Zeit, da glaubte ich, alle Männer haben schlechte Gewohnheiten, aber ein gutes Gewissen dabei. Seit ich Jens kenne, weiß ich es gottlob besser, und ich hoffe, ich muss niemals das Gegenteil ertragen.«
Es sind wohl keine zweihundert Meter, bis Rita am Körberhof ankommt. In dieser Zeit dankt sie dem Schicksal über die unzähligen Zufälle, die ihr Leben zu dem gemacht haben, was es ist. Es waren allesamt gute Zufälle, und sie weiß aus ihrer Arbeit, dass die bösen Zufälle das Leben empfindlich verändern können. Ihr Leben ist eines mit starkem Halt geworden, obwohl es gerade die Flüchtigkeiten waren, die all die haltbaren Schnüre gedreht hatten.
Es war ein langer, anhaltender Winter mit massenhaft Schnee und wenig Sonnenschein. Auf dem Körberhof mühte sich Jens Jedro ab, die Berge von Schnee auf die nahe Wiese zu transportieren; die einzige Methode, um im Frühjahr die Keller nicht voll Wasser zu haben. Ein Wassereinbruch, so wie er zur Zeit der Schwemmwiesen im Spreewald gang und gäbe war, könnte das moderne Heizungssystem lahm legen.
Anfang März schneit es noch einmal heftig.
»Das Land ist heuer bepudert, wie Susan Hellmanns Gesicht«, sagt eine Frau im Laden. »Tauwetter nicht in Sicht. Wann hatten wir einen so langen Winter, mit so viel Schnee. Mein Hubert sagt, es musste so etwas kommen. Jetzt rächt sich In Lücke für die Störung der Totenruhe.«
Der Alte Sedlaczek, der immer mal wieder allein zum Laden gehumpelt kommt, obwohl ihm seine Söhne eine Haushalthilfe organisiert haben, gibt der Frau mit seinem knochigen Ellenbogen einen Rippenstoß und zieht seinen Kopf zu Jens Jedro, der gerade mit Milena Kieschnick aus dem Nebenraum kommt, wo sie offenbar die Bestelllisten durchgegangen sind.
Die Frau hält sich rasch die Hände vor ihren Mund. Jeder hier weiß, dass die Familien vom Körberhof und vom Haus In Lücke miteinander befreundet sind. Wie konnte sie den Jens übersehen?
Jens Jedro ist nur noch selten im Laden, aber noch immer sind ihm die Leute vom Dorf dankbar, dass er den alten KONSUM - trotz vieler Pflichten in der Gemeinde - vor Jahren reaktiviert und bis dato nicht wieder aufgegeben hat.
Für eine Weile hatte Rita noch an ihrer inneren Fassung zu arbeiten. Für eine längere Weile war ihr Mark sogar aus dem Wege gegangen und Rita hat mal wieder mit dem Gedanken gespielt, sie selbst könnte diese unselige Hoffnung in Mark gepflanzt haben. Beinahe hätte sie mit Jens darüber geredet. Beinahe. Manchmal ist es klüger zu schweigen. Sie war ja nicht schuld an dem, was Mark im Schilde führte und was durchaus hätte anders verlaufen können. Aber sie war beteiligt, und sie hat nur halbherzig dagegen angekämpft.
Das alles ist Vergangenheit. Mit den anhaltend warmen Sonnenstrahlen zieht wieder Hoffnung in die Gemüter der Leute, und auf dem Körberhof wie auch im Haus In Lücke ist längst wieder Normalität eingezogen.
Ein weiteres Gespräch mit Susan brachte Rita unlängst die Gewissheit, dass auch die Angelegenheit mit Lubina Kieschnick nur noch ein bisschen wie ein böser Traum in Susans Kopf herumgeistert. Irgendwann wird auch die vergessen sein.
Aus Susans Blick liest Rita mehr denn je, dass ihre Zweifel gegen sie, Rita, langsam verblassen. Andererseits kann sie sich vorstellen, dass Mark vor Susan kein gutes Haar an ihr lässt, um seine Niederlage besser verkraften zu können. Mark hat eine solche Ader. Je mehr Schmutz er auf andere wirft, desto sauberer fühlt er sich. In den ersten Jahren ihrer Zusammenarbeit hatte sie ihm noch jedes Wort geglaubt, weil sie ihn mochte und weil jede seiner Bewertungen schlüssig war. Erst nach und nach war sie dahintergekommen, dass Mark Hellmann ein verdammter Egomane ist - weiß der Teufel, warum das so ist. Gemeinhin mag sie Menschen, die auch mal sagen können: Ich habe Scheiße gebaut. Genau das kann Mark Hellmann nicht. Mark geht gerne den Weg des Kahlschlags. Nur seinen eigenen Wald lässt er ungerodet.
Ändern wir uns nicht alle? denkt Rita und lässt ihren kritischen Blick über den gut arrangierten Abendbrottisch schweifen. Mit einer Hand bewegt sie aus Gewohnheit das wippende Klappstühlchen, obwohl Timi brav an einem Biskuit knabbert und gar nicht ungeduldig ist. Timi war schon als kleines Baby außergewöhnlich friedlich. Er schrie selten und legte mit seinen wachen, hellgrünen Augen ein erstaunliches Interesse an seiner Umwelt an den Tag. Die Hauptsache war, er konnte von seiner Position aus alles überblicken, weshalb die Wiege, die Jens in seiner Vaterschafts-Vorfreude voreilig und eigenmächtig gekauft hatte, bald nur noch für die Nacht genutzt wurde.
Die Tage sind wieder länger, die Geschäftigkeit im Dorf nimmt zu, dennoch ist hier nichts mit dem zu vergleichen, was Rita in der Stadt erlebt hat. Die holprige Straße zum Wochenboten, die laute Doppellallee vor dem Verlagshaus der Spreerundschau, in deren Mitte im fünf Minuten Takt die Straßenbahnen dahindonnern. An trockenen Tagen wirbeln sie Staubwolken auf, bei Regenwetter ziehen sie dichte Nebelschleier hinter sich her. Und dann der ständige Stau an der großen Kreuzung zur Feierabendzeit und das Nadelöhr durch die Stadtmitte, wo sich die Blechlawine non stopp hindurch quält. Was sie wirklich vermisst, sind die Cafés und Kneipen, wo sie gerne gesessen und den Leuten zugesehen hat, wo sie einfach nur Freunde getroffen hat. Auch mit Mark hat sie oft in einer der Bars gesessen. Auch mit anderen Kollegen war das so, und sie haben über das absonderliche Personalkarussell im Verlag diskutiert. Auf den Trittbrettern vor der Chefredaktion sah man stets dieselben Gestalten.
Jetzt ist ihr Leben mit keiner von all den Querelen mehr belastet. Wenn sie einen Auftrag erhält, führt sie ihn aus, oder sie lehnt ihn ab. Sie ist untertarifliche Pauschalistin mit einem Quäntchen mehr Freiheit. Bis jetzt hatte sie nicht den Hochmut, einen Auftrag abzulehnen. Sie übt ihren Beruf nach den Möglichkeiten aus, die man ihr bietet und die sie ihrem Kind und Jens zumuten kann. Man wäre auch als Freischaffende nicht frei. Es gibt keine unabhängigen Berufe. Jeder, der eine Arbeit verrichtet, ist von irgendjemand abhängig. Sogar als Romanautorin ist das so. Wer hat schon seinen eigenen Verlag? Und selbst wenn, allein das Marketing würde Grenzen aufzeigen. Wenn einer ehrfürchtig auf ihre Bücher schaut, dann spricht sie gerne vom Bettelpoeten. Und als solchen sieht sie sich auch.
Noch vor der ersten Zeile im Manuskript beginnt das Betteln. Für Recherchen braucht es Partner, die möglichst nicht unverschämt die Hand aufhalten. Dann bettelt man nahtlos weiter. Lektoren, Verlagschefs, Gestalter, Sponsoren. Und wenn das Buch dann fertig in den eigenen Händen liegt, beginnt die Bettelei von vorn. Lesestellen. Lokalredaktionen. Kulturredaktionen …Käufer
Sie hat keine Wahl. Noch bettelt sie keiner um ein Manuskript, weshalb ihr der Zeitungs-Job noch sehr willkommen ist. Langsam weiß man bei der Spree-Rundschau, welche Themen ihr zusagen, und man hält an ihrem Status fest, trotz erbittertem Kampf um Plätze und Ränge in der Redaktion. Manchmal kam ihr schon der Gedanke, Mark könnte in der Redaktion an den entscheidenden Schrauben gedreht haben, damit man sie nicht vergisst. Aber seit jenem merkwürdigen Tag denkt sie genau das Gegenteil.
Gegen halb sieben - Jens ist noch nicht zu Hause - merkt sie, dass sie friert.
Ihre Wahrnehmung von Wärme hat sich in diesem Winter stak verändert. Noch nie haben sie so oft zusätzlich den Kamin geheizt, wie in diesem Jahr.
Sie läuft durch die Räume, schaut, ob alle Fenster dicht verschlossen sind, schichtet Holz aufeinander und entzündet das Feuer. Dann nimmt sie Timi auf den Arm und läuft mit ihm zum Küchenfenster. Manchmal glaubt sie, er spürt genau, ob es sein Papa ist, wenn ein Auto an der Hofeinfahrt hält.
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