»Schatz, bevor ich’s vergesse. Du müsstest heute Susan ablösen – nur für ein bis zwei Stunden. Lubina kann nicht pünktlich sein.«
Erst dann haucht er ihr einen Kuss auf die Wange und hält ihr scherzend das Kind vor die Nase, dessen Windel dreimal so schwer ist, wie normalerweise am Morgen. An irgendeine zustimmende Bemerkung denkt sie jetzt nicht. Gewöhnlich ist sie gerne bereit, die beiden Frauen der Kita zu unterstützen, wenn Not am Mann ist. Aber heute ist kein normaler Tag. Sie hatte den Monteur gebeten vorbeizukommen, um die Heizungsanlage noch vor dem Winter zu überprüfen. Das Schlimmste wäre, wenn im ersten Winter, den sie mit dem Kleinkind im Haus erleben, die Heizung nicht durchhält. Und außerdem gefällt ihr die Zeit nach dem Mittag nicht. Da fällt sie regelmäßig ins Suppenkoma, wie sie es nennt. In Wahrheit ist sie zu dieser Zeit von den Arbeiten des Tages körperlich erschöpft und sie nimmt sich die Zeit, in der Timi schläft, um über inhaltliche Dinge nachzudenken.
Für einen Moment schärft sich der Blick von Jens, aber er stellt keine Frage. Stattdessen greift er zum Windelkorb, legt die Wickelmatte auf die Kommode und schaltet die Wandheizung ein, die er eigens für die Zeit des Wickelns angebracht hat. Auf diese Art Fürsorge würde kein anderer Mann von sich aus kommen, denkt sie. Jens denkt an viel mehr, und das ist das Schöne an ihrem Leben.
Er schweigt. Rita nickt endlich, schweigt aber auch, nur der Kleine beginnt zu brabbeln und dazwischen vergnüglich zu quieken, als seine rosige Haut auf der blanken Decke liegt und die rote Wärme seinen Bauch bestrahlt.
»Was hat Lubina denn vor?«, fragt sie, während ihre Hände mit einem öligen Tusch den Po des Kindes massieren und die tiefen Falten in den drallen Schenkel von Puder-Rückstände säubern.
Es ist nichts zu hören, außer dem Blubbern des Kaffeeautomaten in der Küche, um den sich Jens bereits kümmert. Er wird auch das Morgenfläschchen schon im Wärmer haben. Und er wird es auch sein, der dem Kind das Fläschchen hält, damit sie in Ruhe frühstücken kann. Ritas Gesicht, das ihrem kleinen Wonneproppen noch niemals mit ernster Miene begegnet ist, verschließt sich für einen Moment. Ihr ist, als müsste sie ihre Gedanken zurücknehmen, als müsste sie die lästige Frage zurücknehmen. Es war nie entscheidend, warum jemand in Schwierigkeiten ist. Entscheidend ist, dass jemand in Schwierigkeiten ist. Und in dieser Haltung unterscheiden sie sich beide in nichts.
»Ich hab sie nicht gefragt«, hört sie Jens endlich in der Küche sagen. »Ich weiß nur, dass Susan nicht länger bleiben kann, weil ihre Eltern am Nachmittag kommen.«
Die Eltern also. Jetzt braucht Rita doch ein Ventil für das kleine Unbehagen, das sie überkommt. Susans Eltern kommen regelmäßig. Ihre Eltern kommen nicht einmal mäßig. Sie nehmen es ihrer Tochter offenbar übel, dass sie in wilder Ehe lebt. Dass sie alle drei glücklich sind, spielt für Mutter Helga keine Rolle. In dieser Angelegenheit ist ihr sogar die fünfundachtzigjährige Lenka voraus. Sie hat nur mühsam aber sehr bestimmt in ihrem unverwechselbaren Jargon gesagt: »Hauptsache von Euch ist keiner nicht unglücklich.«
Etwas ballt sich zusammen in ihrer Brust, schwerer als das Kind, das sie fest an sich drückt. Sie streicht das Hemdchen glatt und zieht die Teile über Timis Rücken übereinander. Enttäuschung ist es nicht. Sie kommt ganz gut alleine zurecht mit ihrem Leben. Es ist so etwas wie Sehnsucht, die sie vor Jahren nie gekannt hat – nicht nach ihren Eltern jedenfalls. Erst seit sie selbst Mutter ist, ahnt sie, was es bedeutet, einem Kind ein wahres Zuhause zu geben, es mit Hingabe zu umsorgen, es mit Liebe zu erziehen und es behutsam auf das bisweilen grausame Leben vorzubereiten. Sie wünscht sich nichts so sehr, als dass es dem Kind immer gut gehen möge und dass sie alle drei von den großen Sorgen verschont bleiben, von denen Tausende in allen Winkeln der Gesellschaft lauern.
Rita und Susan begegnen sich schon draußen vor der Tür. Susan hat den Sportwagen für Mara mitgenommen, weil die Kleine in letzter Zeit immerzu irgendetwas Aufregendes am Wegesrand findet, wenn sie den Weg bis In Lücke zu Fuß gehen. Es dauere immerzu nervig lang, sagt sie.
Susan trägt hautenge Jeans und einen quergestreiften blau-weißen Pullover mit übergroßem Wasserfall-Kragen. Auf ihre High Heels kann sie noch immer nicht verzichten, und zurechtgemacht ist sie, als würde sie zu einem Schönheitswettbewerb gehen. In Susans Nähe kommt sich Rita bisweilen unattraktiv vor, sofern sie überhaupt von sich glauben könnte, attraktiv zu sein. Jens behauptet es und sogar Mark redet es ihr dauernd ein. Aber gerade Mark glaubt sie diesbezüglich kein Wort. Wer sich einen solchen Typ Frau wie Susan angelt, hat ganz gewiss andere Ideale. Soll er, denkt sie. Sie kann nicht sagen, dass sie ein gestörtes Verhältnis zu dekorativer Kosmetik hat. Im Gegenteil. Aber alles zu seiner Zeit, und jetzt hat sie fünf fremde Kinder zu hüten, dafür braucht sie weder Schminke noch Hackenschuhe, sondern ein frohes Gemüt und frische Ideen für einen kunterbunten Nachmittag.
Rita nimmt sich seit Langem so wie sie ist, und sie fühlt sich gut dabei. Aus heutiger Sicht kann sie sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie es gekommen wäre, hätte sie damals Mark Hellmanns dreisten Bemühungen nachgegeben. Hätte er von ihr womöglich erwartet, ständig so auszusehen wie Susan? Die ist durchaus nicht hässlich. Sie ist angemessen groß, schlank, beinahe grazil. Ihr Haar halblang geschnitten und variabel tragbar. Die dunklen Augen scheinen aus Samt, das Haar aus schwerer Seide zu sein. Kein Wunder, dass Mark sie erobern wollte. Dass er es mit Susan gar nicht ernst gemeint hat, musste er ihr damals trotzdem nicht weismachen. Auch die Not, in der er sich befunden habe, schien übertrieben:
Als du mich verschmäht hast, aber Susan es mir leicht machte …
Warum gibt er nicht zu, besessen von Susans Körper gewesen zu sein?
»Hallo Susan«, sagt Rita als Erste. »Schön, dass deine Eltern kommen. Ich wünschte, meinen kämen auch öfter. Der Weg ist immerhin derselbe.«
»Es ist nett von dir, dass du mal wieder aushilfst. Wir haben heute zwei kränkelnde Kinder dabei. Also sei vorsichtig! Wegen Timi.«
»Auch das noch«, entfährt es Rita.
Mit einem Ausdruck von Erstaunen betrachtet Susan Rita einen Moment lang, vermeidet aber jedes weitere Wort, das zu ihrem Nachteil ausfallen könnte.
»Die Kinder schlafen noch. Ich habe nur den Wagen schon nach draußen gebracht.«
»Nimmst du Mara mit?«
»Ist doch klar. Oma und Opa kommen doch nicht meinetwegen.«
In Susans Stimme liegt keine Freude.
»Schon klar.«
Sie schaut Susan an und kann aus ihren Augen lesen, dass sie noch etwas zu sagen hätte. Aber sie sagt nichts mehr. Vielleicht hat sie ihr bisher unrecht getan. Vielleicht ist sie gar nicht so abgehoben, wie alle glauben. Schließlich sagt auch Jens, er würde Susan ganz anders kennen. Vielleicht leidet sie unter dem Dorf, so, wie sie selbst vor Jahren gelitten hat – nicht unerträglich hart und nicht ungewöhnlich lange, aber gelitten hat sie schon, wenn sie ehrlich ist. Obwohl bei ihr die Lage eine völlig andere war. Bei ihr war es eine Flucht vor einem großen Fehler. Sie wollte hier sein, aber sie wollte hier keine Kontakte knüpfen. Also war das Verhalten der Leute im Dorf eine logische Folge ihres eigenen Verhaltens. Für Susan Hellmann sieht das anders aus. Sie will beides nicht. Keine Kontakte, und am liebsten gar nicht hier sein.
»Du siehst müde aus«, sagt Susan nun doch noch.
Rita spürt, dass selbst diese vielleicht gutgemeinte Bemerkung auf sie eine völlig andere Wirkung hat. Von anderen Menschen gesprochen hätte sie sofort Besorgnis vermutet. Von Susan gesprochen vermutet sie nichts Gutes. Womöglich will sie ihr klar machen, dass sie ihr in Punkto frischen Aussehens keine Konkurrenz machen könnte. Das macht sie wohl, weil Mark manchmal sein kleines Theater nicht lassen kann. Bisweilen geht es Rita auf die Nerven, wenn er gerade in Susans Gegenwart unglaubliche Komplimente aus seinem Verführerzirkus zaubert. Wenn Mark sie in Susans Beisein lobt, dann klingt das anders als unter vier Augen: Ritas Umsicht. Ritas Mutterrolle. Ritas Kochkunst. Ritas Bücher - womit er ihre Roman-Werke meint. Und erst, wenn er alles abgearbeitet hat, dann fallen auch ganz nebenbei ein paar Worte zu Ritas Frisur. Zu ihrer Kleidung. Kein Wunder, dass sie für Susan ein rotes Tuch ist. Mit anderen Eigenschaften als mit ihrer Schönheit kann Susan Hellmann nun mal nicht das große Verdienstkreuz gewinnen.
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