Früher hatte sie ein anderes Ideal Mann, aber jetzt ist auch sie klüger geworden.
Wäre Jens nicht auf die Idee gekommen, eine private Kindereinrichtung zu schaffen, dann könnten im Moment sechs Mütter des Dorfes nicht mehr arbeiten. Und es könnten demnächst ein paar mehr werden. Der Spreewald zieht immer mehr junge Leute an. Auch das Söhnchen von Jens und Rita wird bald soweit sein, eine Tagestätte besuchen zu können.
Dass Jens mit diesem Projekt – das er Witaj nennt - auch noch eine kleine Förderung für die Pflege der wendischen Sprache erwirken konnte, ist einzig seiner Cleverness geschuldet.
»Die Menschen hier müssen ihre Sprache genau so pflegen wie ihre Trachten«, hat er gesagt, und er hat gemeint, weil es keine Dorfschule mehr gibt, das Wendische aber eine Umgangssprache ist, die nur mündlich weiter gegeben werden kann, muss sie überall und von allen gesprochen werden – nicht nur von den Alten. Hat es ihm je einer vom Dorf gedankt? Haben die Alten, die so vehement den Erhalt der wendischen Sprache einfordern, jemals dem einst Zugezogenen dafür Achtung gezollt? Sie weiß es nicht. Zwar gebe es an den Schnittstellen Probleme, räumte Jens selbst ein. Die meisten Kinder lernten auf höheren Schulen die Sprache nicht weiter. Dennoch seien es in Kitas rund zweihundert Kinder, die am Witaj-Projekt teilnähmen.
Jens war bei aller Freude sehr nachdenklich. Er wolle auch nichts Falsches tun. »Wenn ein Kind wegen seiner Sprache diskriminiert wird, wird es seine Herkunft zu hassen beginnen«, hat er gesagt. Die Schriftsprache am niedersorbischen Gymnasium sei es nicht, die den Leute hier heimisch sei, die sie zur Gemeinschaft mache. Ihre Sprache sei einzig, und diese Einzigartigkeit gelte es zu erhalten.
Das alles kümmert Susan nicht. Sie ist hier, weil sie formell dazu gezwungen wurde und sie ist darauf bedacht, dass man sie mit dieser Nostalgie in Ruhe lässt. Sie geht den Leuten schließlich auch aus dem Wege.
Andererseits hätte sie selbst nicht geglaubt, dass dieses Witaj-Prinzip funktioniert: Eine Person, eine Sprache. Sie spricht deutsch mit den Kindern, aber Lubina spricht das hiesige Wendisch. Dennoch verstehen die Kinder alles, auch wenn sie bisweilen deutsch antworten, weil auch zu Hause vorrangig deutsch gesprochen wird. Wie soll eine Lautsprache überleben, ohne von Generation zu Generation weitergegeben zu werden?
Mara erlebt die Nachmittage mit Lubina nur ausnahmsweise. Sie kann deshalb wendisch nur mit Mühe verstehen, sie kann nur nachahmen, was die anderen Kinder tun, und sie versteht die Reaktionen der Kinder, wenn sie deutsch antworten.
Das Wendische gehört nicht zu den unangenehmsten Seiten ihres neuen Lebens auf diesem Dorf. Es sind derer noch andere. Seit Jens erzählt hat, dass man auch Rita hier im Dorf lange Zeit gemieden habe, ihr so manches schnöde versagt, was das Dorf miteinander teilte, nur weil sie als Fremde galt, seitdem geht es Susan besser. Keiner konnte ahnen – Jens eingeschlossen - dass Ritas Wurzeln in diesem Dorf liegen und sie nur darum hierher zurück in das Haus ihre Großmutter gezogen ist. Vorurteile haben keine hohe Sterberate, hat Jens gesagt. Sie fallen allenfalls vorübergehend ins Koma.
Susan Hellmann will von Vorurteilen nichts hören. In ihrem Falle glaubt sie an nichts Anderes als an Neid. Davon schließt sie nur wenige Menschen aus. Die Jüngeren neiden ihr das Haus, den Mann und alles was sie umgibt. Es gibt nur zwei Varianten, wie die Menschen mit ihr umgehen. Ignorant oder offen feindselig. Manchmal weiß sie nicht, was ihr verhasster ist. Wenn wenigstens Mark etwas dagegen unternehmen würde …
Ein Knarren, wie vom morschen Holz einer Erle im Wind. Auf der Straße ist kein Mensch zu sehen zu dieser Zeit. Kuhdorf eben. Das Zimmer hat ein Fenster zur Straße und ein schmales Oberlicht nach innen zu den Garderoben der Kinder, wo auch die Schränke der Erzieher stehen, ihrer und der von Lubina. Lubinas Fahrrad steht noch nicht im Ständer.
Susan stellt den Teepott lautlos auf den Tisch. Warum sie behutsam auf den Stuhl steigt, der unter dem Oberlicht steht, kann sie sich später nicht mehr erklären. Aber sie steigt hinauf und späht durch das Glas, das längst einmal gesäubert gehörte. Im Garderobenraum kann sie Lubina sehen, und wie sie auf ihrer neuen, hellen Kunstpelz-Jacke herumtrampelt und sie dann rasch in den Spind zurückhängt. Susan bleibt wie angewurzelt stehen, kann nicht einmal erklären, warum sie nicht schreit, wie es ihr im Moment zumute ist.
Lubina schleicht zurück zur Tür, öffnet sie vorsichtig und zieht sie mit lautem Knall zurück ins Schloss. Erst dann summt sie wie immer, wenn sie kommt, ein wendisches Lied vor sich hin.
Susan hasst Lubina und zugleich braucht sie sie. Aber nicht für das, was sie soeben bemerkt hat, hasst sie Lubina. Das ist eine ganz neue Entdeckung. Sie hasst sie, weil sie ständig stichelt, vor allem vor Mark. Es sind zwar kleine Episode des Tages, aber so übertrieben erzählt, als wäre Susan Hellmann das Dümmste, was dieses Dorf zu bieten hat. Susan kann nur hoffen, das alles richte sich gegen Mark, gegen seinen Thron der Unfehlbarkeit. So gesehen könnte Lubinas Marotte irgendwie auch ihr nutzen. Aber ausgerechnet Lubina gönnt sie keinen Triumph. Alles, was Susan von Lubina spürt, riecht nach Hass. Sie lächelt zwar und tut freundlich, und ganz offensichtlich kann sie auch freundlich sein, sonst würde einer wie Jens nicht mit ihr auskommen. Menschen, die Jens mag, sind meistens okay. Meistens. Aber bisweilen sieht sie etwas in Lubinas Augen, das sie an den nahenden Winter erinnert, an Frost und Kälte. Susan glaubt dennoch nicht daran, dass diese Kälte ihr gilt. Sie gilt offenbar der ganzen Welt, diesem Leben auf dem Dorf, dem sie nicht entfliehen kann.
Als Lubina den Raum betritt, liegt Susan zwar noch eine patzige Bemerkung auf den Lippen, aber aus unerklärlichen Gründen schluckt sie sie herunter. Sie mag sich mit Lubina nicht überwerfen. Das Leben wäre dann vollends unerträglich. In ihr brennt eine große Wut auf Lubina, eine kleine auf sich selbst und ihre Feigheit, dieses Miststück nicht in flagranti gestellt zu haben. Sie spürt, wie die Wut in Traurigkeit umschlägt und wie ihr das Bedürfnis zu heulen die Kehle abschnürt. Ihr Herz schlägt eigenartig stockend gegen den Brustkorb und ein kleines Brennen stellt sich ein. Sie muss raus hier, so schnell es geht.
Lubina Kieschnick bereut wenige Minuten später ihr Manöver. Wie üblich hat sie sich für den Moment besser gefühlt, aber sie fragt sich jedes Mal, weshalb sie einen Fehler, den sie inzwischen als Fehler begreift, mit solcher Ignoranz jeder Gefahr wiederholt. Nicht, dass ihr irgendeine Gefahr den Angstschweiß auf die Stirn treiben würde. Nicht dass sie fürchtet, Susan könnte sich rächen. All das spielt keine Rolle. Bis jetzt hat sie nicht einmal ernsthaft darüber nachgedacht, was danach kommt – kommen muss – wenn sie Susan gehörig eingeheizt hat. Es ist nicht ihr Tag. Wie kann man auch besonnen bleiben, bei dem, was ihr dauernd passiert. Sie fühlt sich nicht schuldig an ihrer heutigen Lage.
Ein dünnes, böses Lächeln huscht über Lubinas Lippen. Ein kleiner Stich aus den Augen, die das Treiben der Kinder lustlos verfolgen und dennoch kaum wahrnehmen, was um sie passiert.
Was wäre, Susan hätte sie in ihrer wilden Wut beobachtet. Sie selbst wäre der puren Niedertracht bezichtigt worden. Sie wäre fortan abgestempelt, vor allen bei Menschen, denen sich Susan anvertraut – und das wäre mit Sicherheit ihr Angetrauter Mark, und das wäre auch Jens Jedro. Nein, sie muss sich beherrschen lernen. Und überhaupt, was soll das bringen? Eine dreckige Jacke ist schnell gereinigt. Und Jacken hat diese Susan wie Sand am Meer. Wenn sie einen Sieg über Susan erringen will, dann muss sie über etwas Anderes nachdenken.
Inzwischen hat sie ein kleines Geheimnis, das den beiden nicht lieb sein kann. Von der Straße aus hat sie einen Streit mit angehört, ja mit angesehen, weil Susan keine herkömmlichen Gardinen vor den Fenstern hat.
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