Ritas Augen durchmessen den sterilen Raum. Kaum einer weiß, ob Susan ihn je wieder verlassen kann. Die Kurven auf einem der Monitore zeigen den Herzschlag an. Rita weiß nicht, ob es normal schlägt. Sie weiß nur, hier liegt keine leere Hülle. Susan Hellmann ist lebendig. Ihr Herz schlägt. Ihre Lunge zieht Luft. Sie lebt. Sie kann nicht allein essen und trinken. Sie kann nicht laufen, ihre Muskeln nicht bewegen. Susan Hellmann hat eine zweite Dimension des Lebens angenommen. Das Tor zum Bewusstsein ist zugeschlagen, aber es ist noch immer Leben? Unser Bewusstsein ist ein Geschenk, das den Wert des Lebens vervielfacht. Verliert der Mensch das Privileg, Mensch zu sein, wenn das Bewusstsein andere Wege geht?
Der zarte Duft ist ganz nah. Jemand berührt ihre Hand. Sanfter und bedachter, als diese bösen Geister.
Susans Herz klopft heftig und sie ringt nach Luft. Noch ein Schatten kommt durch den Nebel. Ein weißer. Er spricht zu den anderen und dreht an dem zirpenden Gerät. Und wieder dieses grausige Piepen und das schlürfende Ziehen von Luft. Warum kann sie keinen Muskel rühren? Warum kann sie nicht schlucken? Es sind die harten Dinger in ihrem Hals. Sieht das denn keiner …?
Die Worte der drei Schatten dringen nicht mehr bis zu ihr. Sie schwebt in ihrem weißen Nebelkleid einer Wolke entgegen. Da unten sieht sie das Grün vom Luch, das Rot vom Dach des kleinen Hauses … Dieses Haus …! Was ist mit ihr geschehen? Sie muss sich erinnern …
»Etwas Besseres als den Tod finden wir überall …«, liest Susan Hellmann mit einem Ton in ihrer Stimme, von dem sie lange nicht wusste, dass sie zu einem solchen überhaupt fähig ist. Sie klappt das Märchenbuch zu, streicht einem der Kinder über das Haar und sagt mit Bestimmtheit: »Und wenn ihr jetzt alle ganz schnell einschlaft, lesen wir am Nachmittag, was den Stadtmusikanten auf ihrem Weg nach Bremen noch alles passiert ist.«
Freilich weiß sie, dass sie am Nachmittag nicht mehr hier sein muss. Lubina ist am Nachmittag dran. Die Kinder haben die kleine Mogelei nicht bemerkt. Zwei von ihnen ziehen gehorsam die Decken bis über die Ohren, zwei tuscheln: Sie wüssten ja längst, dass die Räuber kämen.
Nur Mara reckt ihrer Mama den kleinen Mund für ein Schlaf-Gut-Küsschen entgegen.
Wie schön die Ruhe ist, denkt Susan. Bisweilen geht es in diesen Räumen laut zu. Manchmal dröhnt ihr der Kopf, wenn sie nach fünf Stunden endlich dieses Haus verlässt. Aber sie ist jetzt nicht mehr so unglücklich, seit sie diese Aufgabe hat, die auch noch bezahlt wird. Ohne diese Kinder würden die Tage noch immer viel zu lang sein, das Warten auf den ewig abwesenden Mark zu nervig und die Spiele mit Mara bald eintönig.
Sie ist noch so jung und schon viel zu oft allein. Wenn sie allein sagt, dann meint sie mit Mara und deren ganz normalen kindlichen Ansprüchen. Ohne Mara gliche das Alleinsein der Besinnung auf sich selbst, auf die eigenen Ansprüche; bedeutete es Freiheit. Sie ist nicht mehr frei, und seit einiger Zeit fühlt es sich auch so an, als sei sie gefangen im goldenen Käfig.
Sie hatte sich lange gegen Marks Pläne gesträubt, hierher in dieses verhasste Spreewald-Nest Alt Zechau zu ziehen. Schon der Namensteil Alt hat bei ihr die Alarmglocken schrillen lassen, beinahe die ganze lange Phase des Baugeschehens hindurch. Irgendwann brachte sie die Energie nicht mehr auf, Mark zur Einsicht zu bewegen; eine Hilfe war sie ihm in ihrem Groll nicht.
Freilich ist der Spreewald reizvoll. Für eine Woche. Nicht fürs ganze Leben. Jetzt fühlt sie sich dazu verurteilt, von Mark, der einst vorgab, sie unheimlich zu lieben. Unheimlich wird ihr zuweilen, wenn sie darüber grübelt, was sie sich von einem Leben mit Mark erhofft hat. Nach Liebe sieht sein selbstherrlicher Alleingang jedenfalls nicht aus. Sie brauchte Mark mehr als er sie, und irgendwann begann sie seinen Schwüren zu glauben: Bei der Auswahl des Baulandes in diesem Dorf sei niemals die Nähe zu Rita Georgi bedeutend gewesen. Mark schwört noch immer, dieses Stückchen Land nahe am Luch habe ihm einen Kitzel beschert. Diesem Brachland inmitten des Ortes hatten die alten Wenden den Namen In Lücke gegeben und sie hatten sich offenbar geschworen, es niemals zu bebauen, weil es dafür einen Grund gab, den man kollektiv verschwieg . Noch heute wäre das Schweigen geheimer Auftrag, aber Rita Georgi hatte das richtige Näschen für den Grund der dörflichen Verschworenheit. So hat Mark schließlich sein Ziel erreicht.
Susan weiß, wie es um Mark steht. Wenn er etwas will, kämpft er mit allen Mitteln darum. Auch damals konnte er nicht anders, musste In Lücke besitzen, gerade, weil es ihm in diesem Kaff niemand gönnte. Einen Fluch hatte man dem Stück Land angedichtet. Einen Fluch, den man eine gewisse Zeit lang sogar nachzuweisen versuchte, bis der Bagger das Skelett ausbuddelte.
Für Susan war alles, was bis dahin auf dem Baugrundstück passiert ist, die logische Folge von Marks Besessenheit, sich gegen den Willen der Dorfbewohner und gegen uralte Traditionen durchzusetzen. Sogar Jens hat ihm dabei geholfen. Auch Jens war einst Zugereister, aber mit hiesigen Wurzeln. Er hatte keine Ahnung von dem Fluch, den dieses Dorf zu bemänteln trachtete.
Wenn Susan Hellmann heute davon spricht, sie habe nichts von einem Fluch gespürt, dann unterschlägt sie den Fluch ihres eigenen Gefühls, in diesem Dorf verraten und verkauft zu sein. Verlassen fühlt sie sich gar, weil Mark zu viel unterwegs ist. Langeweile ist es nicht. Sie hat den Haushalt zu führen, eine notwendige, aber lästige Sache. Mark achtet darauf, dass die Gartenwege stets vorzeigegerecht gesäubert sind und der Partykeller zu jeder Zeit für unverhoffte Gäste in Schuss ist. Manchmal kümmert sie sich um Marks Termine, ordnet und sortiert seine Papiere, was ihr nicht gut ausgelegt wird. Aus reiner Gewohnheit vergriff sie sich einmal an seiner ungeübten Buchhaltung. Mark kam dazu, und es gab Zoff. Auch später hat sie ihn nicht fragen dürfen, wie hoch die Zuschüsse ihrer Eltern für die Raten sind, die monatlich der Bank zufließen. Aber sie weiß, dass ihre Eltern an der Tilgung des Kredites für das Haus mitwirken.
»Warum muss das sein. Du arbeitest doch für gutes Geld auch freischaffend«, hat sie ihn gefragt. Davon dürfen der Verlag und möglichst auch ihre Eltern niemals erfahren, hat er sie beschworen.
Ob er ihr nicht vertraut, oder ob es noch andere Gründe gibt, war bisher nicht herauszufinden.
Bis zu Maras Geburt war sie eine geachtete Redaktionssekretärin im Spree-Rundschau-Verlag. Sie ist und bleibt in ihrer Seele Sekretärin, aber auf diesem gottverdammten Kuhkaff wird keine Sekretärin gebraucht, und die vierzig Kilometer täglich bis zum Verlag zu fahren, lohnen sich für die wenigen Stunden nicht, die sie arbeiten könnte. Einen Vollzeit-Job neben Haus und Kind kann sie nicht annehmen.
Sie hatte sich abgefunden mit dem Haus - das ein schönes Haus ist, modern und hell. Sie hatte sich abgefunden mit der Einsamkeit und sogar mit den aufgezwungenen Freunden, obwohl sie noch immer nicht weiß, was sie von dieser Freundschaft halten soll. Dieser Rita Georgi kann sie noch immer nur mit Skepsis begegnen, wenngleich Mark ständig von unbegründeten Vorurteilen spricht. Jens Jedro hingegen ist nett, das weiß sie, wenn auch erst seit Kurzem. Bisweilen kommt darum ein wenig Neid in ihr auf. Neid auf Rita.
Ihrer Furcht vor dem Alleinsein hatte Susan Hellmann zeitlebens nichts entgegenzusetzen. Eines Tages war es so weit, ihr drohte die Decke auf den Kopf zu fallen. In diesem abgelegenen Dorf ist sie allein – mit Mara zwar – aber inwendig furchtbar einsam. Zum Glück hat Jens Jedro ihre Lage erkannt und dem Ganzen ein vorläufiges Ende bereitet. Sie wusste zuerst nicht, warum er ihr den Vorschlag gemacht hatte, ein paar Stunden am Tag in der Kindertagesstätte zu arbeiten. Bis dahin hat sie sich von den Problemen des Dorfes grundsätzlich ferngehalten. Sie wusste nicht einmal, dass der staatliche Kindergarten mangels Masse vor Jahren abgewickelt worden war. Ob Jens aus Eigennutz gehandelt hat oder aus Verantwortung für sein Dorf – wie er es nannte – oder ob er es nur mit ihr gut gemeint hat, das will sie gar nicht wissen.
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