Es war ihr nicht leicht gefallen, ja zu sagen. Ob sie es Jens zuliebe getan hat? Oder Mara? Oder ob sie sich geschämt hat, in ihrem schönen Haus wie die Made im Speck zu leben? Das alles beantwortete sie sich damals nicht. Wenn sie es jetzt mit Abstand bedenkt, hat sie sich nicht einmal Mara zuliebe für den neuen Job entschieden. Zwar sagt sie immer: Kinder brauchen Kinder. Aber eigentlich hatte erst Jens sie überzeugt: Wenn Du sowieso den lieben langen Tag Kinderfrau bist, kannst du es doch auch mit vier oder fünf probieren. Das hebt die Selbstachtung und bringt ganz nebenbei eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit.
Ob Mark dahinter steckt? Jens und Mark sind nicht das, was man dicke Freunde nennen könnte. Jens geht es wie ihr. Er ist durch die Freundschaft zwischen Rita und Mark in diese Verkettung geraten, unfreiwillig, wie er es nennt.
Eigentlich darf sie über Jens gar nicht nachdenken, ohne sich selbst und ihre einstige Meinung über Männer infrage zu stellen. Jens ist so wohltuend anders als Mark.
Seit sie hier ist hat auch sie sich verändert. Verdammt verändert. Nur eines kann sie noch immer nicht lassen. Auch wenn sie es tagsüber nur mit kleinen Kindern zu tun hat, sie muss sich herausputzen, als ginge sie noch immer ins große Verlagshaus. Jeden Morgen fönt sie ihr Haar, schminkt sich sorgfältig und lackiert die Nägel – sogar die Fußnägel. Zuerst hat genau das bei den Kindern zu großem Erstaunen geführt. Auch die vollbusige Lubina Kieschnick konnte sich ihrer nervigen Lästerei nicht enthalten. Inzwischen lackiert auch sie ihre Fußnägel, ungeschickt in der Farbwahl, aber auffällig genug.
Bisweilen, in der kurzen Zeit der Ablösung, geht ihr Lubina gehörig auf die Nerven, und Lubina geht es mit Susan offenbar nicht besser. Beide mussten sich akzeptieren. Lubina ist auserwählt worden, um den Kindern das Wendische beizubringen. Nur deshalb bekommt die Gemeinde eine kleine Förderung, ohne die diese Einrichtung nicht rentabel wäre. Ein höherer Kostenbeitrag, so meint Jens, sei für die Eltern der Kinder nicht akzeptabel.
Manchmal ist sie froh, hier zu sein, aber manchmal fühlt sie sich ungewöhnlich schwach. Freilich war es schlimmer, als sie noch allein zu Hause hockte und stundenlang auf Mark wartete. Damals ging sie nicht einmal zur Tür, wenn jemand aus dem Dorf an der Gartenpforte läutete. Eine Zeit lang beklagte sie sich, krank zu sein, aber ihre Mutter sagte, die Einbildung würde wieder einmal mit ihr durchgehen. Auch Mütter irren bisweilen. In einem aber hatte Mutter recht. Als sie noch ein Kind war, hat sie gerne einmal krank gespielt und ihre Eltern zu Tode erschreckt. Kein Wunder, dass Mutter sagt, sie soll um Gottes Willen vor Mark nicht schlappmachen. Das würden Männer nicht mögen, und einen wie Mark bekäme sie nie wieder.
Ihre Mutter hält verdammt große Stücke auf Mark. Noch im vergangenen Jahr hätte sie ihr gerne Recht gegeben. Jetzt muss sie bisweilen an anderer Stelle Halt suchen, weil ihr Mark keinen gibt, keinen geben kann. Er hat zu viel um die Ohren. Wohl deshalb spricht er davon, er brauche jetzt eine starke Frau. Also muss sie zu jeder Zeit stark sein und mehr noch, sie muss auch schön aussehen, damit wenigstens noch etwas in ihrem Leben schön ist. Leider hat Mark nicht einmal dafür noch Augen.
Wenn Jens kommt und in der Kita nach dem Rechten sieht, fühlt sie sich gut. Er bemerkt ihre Sorgfalt; er hat ein großes Herz und versteht die Probleme einer Frau. Wenn sie vor ihm nicht schwach sein will, macht das wenigstens Sinn.
Früher galt sie bei fast allen Menschen als verwöhnter Schössling. Aber aus irgendeinem Grund ist sie stärker geworden. Vielleicht, um es gerade ihrer Mutter zu beweisen. Jeden Ehe-Crash würde ihre Mutter der eigenen Tochter zur Last legen. Ob sie in Mark vernarrt ist, oder in seine Position als Zeitungsjournalist, das hat Susan noch nicht herausgefunden. Manchmal wankt ihre Welt gefährlich, in der sie nicht mehr der Mittelpunkt ist. Nicht für ihre Mutter und auch für Mark nicht. Am schlimmsten ging es ihr, als Mark das erste Mal ohne Vorankündigung über Nacht nicht nach Hause gekommen war. Ihre Gemütsverfassung stand kurz vor der Explosion, und sie fragte sich die ganze durchwachte Nacht hindurch, ob zwischen ihnen noch alles in Ordnung ist. Freilich musste sie am Morgen bei Jens Jedro in Erfahrung bringen, ob seine Rita in dieser Nacht zu Hause war. Sie sei es gewesen, sagte Jens, aber das Wundern in seinem Blick war ihr nicht entgangen. Beruhigt war sie nach seiner Antwort nicht. Zu lügen gilt bei Männern beinahe als zweite Natur.
Es ist ein trüber Tag, so recht zum Schlummern gemacht. Wäre sie jetzt nicht hier, würde sie gewiss mit Mara zu Hause ein Mittagsschläfchen halten. Hier aber muss sie durchhalten, so schwer es auch fällt.
Der Kindergarten ist in einem Backsteinhaus an der Dorfstraße untergebacht. Die Fenster des Gruppenraumes zeigen zum Luch. Nur die Garderoben und das winzige Büro, das sie Erzieherzimmer nennen, zeigt zur Straße hin. Susan steht versonnen am Fenster. Nach dem Mittagschlaf der Kinder beginnt Lubinas Dienst. Normalerweise nach der Mittagsmahlzeit. Nur heute nicht. Während die Kinder ihr Essen einnehmen, beeilt sich Susan täglich, Mara rasch anzuziehen und zu gehen. Sie mag Lubina nicht, und sie macht kein Hehl draus. Lubina scheint es genauso zu gehen. Vor ihrer Mutterschaft hatte sie deutlich stärkere Animositäten gegen jeden, der sie nicht leiden mochte. Das Kind hat so vieles verändert.
Sie hat sich einen Tee aufgebrüht, wärmt sich die klammen Finger an der Tasse und schaut dabei versonnen aus dem Fenster. Die große Kastanie - von der Miniermotte zerfressen - sieht krank und düster aus. Die Erlen verlieren zunehmend ihre Blätter. Heute leuchten ihre Farben nicht in der Herbstsonne. Nur schemenhaft heben sich die Umrisse hinter einem grauen Schleier ab. Es ist, als will der Herbstnebel das ganze Dorf einhüllen.
Ein kleiner Schauder überzieht ihre Haut. Ein Luftzug? Es ist ein altes Haus, wie alle Häuser in der Mitte des Dorfes. Aber die Fenster sind erst vor Kurzem erneuert worden. Von dort strömt kein Luftzug durch die alten Mauern, in deren Fugen der Schmutz einiger Generationen haftet.
Sie sollte zurück in den warmen Gruppenraum gehen, aber das tut sie nur ungern. Es ist zwar schön, die Kinder schlafen zu sehen, aber sitzt sie dabei, findet sich immer ein dreistes Plappermaul, das mit allerlei Fragen den Rest der Kinder am Schlafen hindert. Außerdem kann sie allein für sich besser abschalten. Niemals hat sie so oft über ihr Leben nachgedacht, wie in den letzten Monaten. Wenn sie ehrlich mit sich ist, kann sie nicht behaupten, zu den edelmütigen Menschen gehört zu haben. Aber sie hat sich geändert, auch wenn das kaum einer vermutet. Womöglich sollte sie über ihre auffällige Erscheinung nachdenken. Zu sehr gestylt für dieses Nest? Zu hohe Schuhe, für diese Straßen? Zu edle Materialien ihrer Klamotten? Zu viel Schminke ...? Zu lange Fingernägel ...? Zu viel Parfüm ...?
Nein. Verbiegen wird sie sich wegen der Leute nicht, solange sie all das nicht selbst behindert. Aber wann merkt man das schon? Ist es nicht längst schon so? Glaubt sie nicht längst, all ihre Vorlieben liegen in diesem Kaff im Scheintod? Nein. Sie liegen im künstlichen Koma, aus dem sie durchaus zu jeder Zeit geholt werden könnten.
In den vergangenen Wochen hatte sie mehr mit Jens Jedro geredet, als mit Mark. Erst gestern am Vormittag hat er vorbeigeschaut …
Ihre Lippen kräuseln sich zu einem zufriedenen Lächeln. Jens braucht wie sie einen Menschen, der ungedrechselte Worte liebt. Und sie braucht einen Mann, der sich zu Schwächen bekennt und der auch mal Nerven spüren lässt? Auch wenn er sagt, er komme, weil diese Einrichtung seine Idee war, sie weiß über Männer besser Bescheid, sie ist ja Frau genug. Freilich muss er Bescheid wissen, wie sein Projekt sich entwickelt. Aber ist da nicht mehr im Spiel?
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