„Er erzählte mir später, dass er Karl zuerst auf Knien und unter Tränen um mein Leben angefleht habe.“ Ruy machte eine Pause und ließ Ana Zeit, zu ermessen, wie stark eine Freundschaft sein musste, für die ein so stolzer Mensch wie Philipp zu einer solchen Selbsterniedrigung fähig gewesen war. „Und als das nichts half, verkündete er vor Karl und seinen engsten Beratern, er werde nichts mehr essen, bis ich wieder auf freiem Fuß und von jeglicher Schuld freigesprochen sei. Im schlimmsten Fall sei er bereit zu sterben.“
„Und die Aussicht, seinen einzigen Sohn zu verlieren, hat Karl dazu gebracht, dich zu begnadigen.“
„Richtig. Philipp hielt Wort und rührte vier Tage lang keine Mahlzeit an, und als Karl sah, dass es seinem Sohn ernst war mit dem, was er gesagt hatte, ließ er mich frei.“
Der junge Wallach, den Ana ritt, spürte, wie die Anspannung seiner Reiterin nachließ, und begann unruhig zu tänzeln. Mit einem leichten Druck ihrer Fersen ritt Ana an, und Ruy folgte ihr. Für einige Minuten herrschte Schweigen, dann sagte Ana leise: „Jetzt verstehe ich vieles besser. Verzeih mir, dass ich dich dazu bewegen wollte, weniger bei Hofe zu weilen. Du stehst in Philipps Schuld, und ich weiß, dass du das ernster nimmst als die Gefahr, in die Albas Intrigen dich bringen könnten.“
Ruy ritt näher an seine Frau heran und legte den Arm um ihre Taille. „Es gibt nichts zu verzeihen, mein Liebling.“
Ana schien immer noch tief in Gedanken zu sein. „Ich wusste nicht, dass Philipp so selbstlos handeln kann.“
„Er ist ein guter Mensch, Ana, auch wenn viele das Gegenteil behaupten, und wenn ihn ein Fanatiker wie Herzog Alba ständig zum Krieg drängt, braucht er jemanden, der ihm den Rücken stärkt und sich für Frieden einsetzt.“
„Und dieser Jemand bist du.“
„Richtig. Ich verdanke Philipp so viel – nicht zuletzt meinen gesellschaftlichen Rang, der mir bei deinem Vater die Türen geöffnet hat. Und deshalb muss ich irgendwie versuchen, ihm wenigstens einen Teil dessen zurückzugeben, was er mir gegeben hat, verstehst du?“
Sie sah ihn eindringlich an. „Egal, was du tust, Ruy: Du darfst niemals vergessen, dass ich dich liebe. Versprichst du mir das?“
„Wie könnte ich das je vergessen?“ Er küsste ihre Hand und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. „Lass uns zum Schloss zurückreiten – der Morgen ist noch jung, mein Schatz...“
„Ich hoffe, du sitzt fest im Sattel. Ich werde nicht auf dich warten!“ Sie wendete ihr Pferd, so dass das Ufer des Tajo frei vor ihr lag.
Ruy nahm die Zügel auf und rief abenteuerlustig: „Wohin geht der Weg?“
„Wohin der Wind weht, der alle Wege geht.“ Ana galoppierte an. „Den Wind kann niemand aufhalten!“ rief sie lachend, und Ruy gab seinem Pferd die Sporen und folgte ihr.
Der Frühling hatte Einzug in Madrid gehalten, und die kleine, fast noch dörfliche Stadt, die sich gewissermaßen über Nacht als Hauptstadt Spaniens wiedergefunden hatte, war lebendig wie nie zuvor. Straßen, Häuser und Adelspaläste wurden gebaut, die Märkte zogen Händler aus ganz Kastilien an, und selbst die ausländischen Botschafter begannen sich an ihren neuen Lebensmittelpunkt, der so gar nichts mit dem strengen, düsteren Toledo gemeinsam hatte, zu gewöhnen.
Die Entscheidung für Madrid war Philipp nicht leicht gefallen. Spanien hatte nie eine feste Hauptstadt gehabt, und Madrid hatte außer einer zentralen Lage wenige Vorteile. Doch im Gegensatz zu Toledo gab es hier Platz für königliche Bauten und für Wohnhäuser, und Elisabeth, die den schmucklosen Lebensstil an Spaniens Hof bemängelt hatte, würde im Alcázar, der aus- und umgebaut wurde, endlich prunkvolle Bälle und Empfänge geben können. Nach einiger Zeit genoss der König es sogar, dem Wachsen seiner Hauptstadt zuzusehen, denn er hatte der aus seiner Kronprinzenzeit stammenden Begeisterung für Architektur nachgegeben und an vielen Plänen für die entstehenden Bauten selbst mitgearbeitet; und wenn er jetzt aus den Fenstern des Alcázar auf die Stadt sah, erfüllte ihn dieser Anblick jedes Mal mit Stolz.
Elisabeth hatte sich über die endgültige Entscheidung für Madrid sehr gefreut, denn Toledos Enge bedrückte sie, und das laute, quirlige Leben in der neuen Hauptstadt glich mehr der Atmosphäre, die sie aus Paris gewöhnt war. Ihre Hofdamen beschwerten sich zwar über die mangelnde Achtung, die ihnen die Stadtbewohner entgegenbrachten, aber das amüsierte Elisabeth mehr, als dass es sie interessierte, denn auch Ana hatte Gefallen an Madrid gefunden, und das Stadthaus, das sie zusammen mit Ruy vor kurzem bezogen hatte, diente den beiden Frauen oft als Ausgangspunkt für eine Erkundungsfahrt durch die Stadt und ihre Umgebung.
Doch an diesem Nachmittag war alles anders; als Ana sich zum Alcázar fahren ließ und Elisabeths Gemächer betrat, bemerkte sie sofort, dass ihre Freundin nicht zu einem Ausflug aufgelegt war. Nach einigen Minuten eines mehr pflichtbewusst als erfreut geführten Gesprächs ergriff Ana die Initiative. „Der Tag ist so schön, warum bist du so traurig?”
Elisabeth sah ruckartig auf und wirkte fast erschrocken, als sie antwortete: „Ich bin nicht traurig, ich bin…“ Sie zögerte und fuhr dann etwas heftig fort: „Ach, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.”
Ana legte ihr sanft die Hand auf die Schulter und sagte: „Du weißt, dass du mir alles sagen kannst.”
Zögernd und leise gestand Elisabeth: „Es hat – mit meiner Ehe zu tun.”
„Behandelt Philipp dich etwa schlecht?” fragte Ana ungläubig.
„Nein, aber…” Sie schlug die Augen nieder. „Ich habe dir ja erzählt, dass er mich bisher im Bett nicht angerührt hat.“
„Wofür du ihm auch sehr dankbar warst.“
Elisabeth ging darauf nicht ein. „Gestern Nacht haben wir uns zum ersten Mal geliebt.“
Ana erahnte das Problem und fragte vorsichtig: „War Philipp nicht rücksichtsvoll genug? Du bist immerhin noch sehr jung.”
Elisabeth hatte sichtlich Schwierigkeiten, ihre Gefühle zu schildern. „Nein, es ist nur... Ich hatte mir das alles etwas anders vorgestellt! Ich meine, ich weiß ja, dass Frauen an der Erfüllung ihrer ehelichen Pflichten keinen Gefallen finden müssen, aber…”
Ana, die sich in ihrer Ahnung bestätigt fühlte, vollendete den Satz: „Aber wie immer hat eine Kammerzofe zuviel geplaudert und dir erzählt, dass man dabei durchaus Spaß haben kann. Und den vermißt du jetzt.”
Elisabeth nickte erleichtert. „Genau! Weißt du, es ist ja nicht so, dass Philipp nicht zärtlich zu mir war, aber ich konnte diese Nacht einfach nicht so genießen wie er.”
„Hast du ihm das gesagt?” fragte Ana.
„Um Gottes willen, nein!”
Ana sah ihrer Freundin eindringlich in die Augen. „Das wirst du aber müssen. Oder vielleicht musst du es ihm nicht direkt sagen, aber auf jeden Fall solltest du ihm zeigen, was du möchtest.”
Elisabeth sah alarmiert auf: „Zeigen?”
Ana lächelte verständnisvoll. „Ich weiß, das klingt sehr verworfen, aber wenn du willst, dass es in Zukunft anders wird, darfst du deine Wünsche nicht für dich behalten.”
Elisabeth war diese Wendung des Gesprächs sichtlich unangenehm. „Aber wie soll ich denn... Ich kann doch nicht einfach seine Hand nehmen und…”
„Aber sicher! Philipp ist doch kein Hellseher; vielleicht denkt er, dass du – gewisse Dinge noch nicht zu schätzen weißt.”
Diese Bemerkung schien Elisabeth noch mehr zu verwirren. „Und wie kann ich ihm das Gegenteil beweisen?”
Ana sah sorgfältig musternd an ihrer Freundin herunter. „Wie wäre es mit einem neuen Kleid?”
„Was ist an meinem Kleid denn nicht in Ordnung?” Elisabeth war sichtlich betroffen.
„Für deine Zwecke brauchst du etwas Verführerisches, nicht so steif und züchtig wie die spanische Mode.”
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