Verena gingen etliche Gedanken dieser Art durch den Kopf. Dabei beobachtete sie die Menschen, die vor ihr vorüber huschten, aber sie nahm doch keine rechte Notiz von ihnen. Erst als ein älterer Mann wenige Meter vor ihr vorbei ging und einen Rollstuhl mit einem behinderten Kind darin vor sich herschob, nahm sie das Geschehen und die Menschen um sie herum wieder richtig wahr. Die haben wirklich ein schweres Los gezogen, dachte sie. Doch der Mann lachte, er redete mit dem Kind, zeigte mit seinem Finger nach vorne, als wolle er das Kind auf etwas aufmerksam machen, und auch das Kind machte einen glücklichen und zufriedenen Eindruck. Die haben ein so schweres Los gezogen, dachte Verena, und trotzdem lachen sie und sind wohl glücklich. Und ich, mir geht es körperlich gut, ich habe keine Krankheiten, einen guten Job, in dem ich ordentlich verdiene, tolle Eltern, die alles für mich machen, eine prima Schwester, mit der ich mich so gut verstehe, ich habe mir in meinem Leben doch nichts zu Schulden kommen lassen, und doch will ich immer wieder sterben. Warum? Ich ertrage das nicht mehr. Ich ertrage das Leben nicht mehr. Oh Herr, sag mir doch, was mit mir los ist. Ich weiß es nicht. Morgen ist Schluss. Endgültig.
Dann beobachtete sie eine Gruppe Erwachsener mit vier Kindern, alle so zwischen drei und acht Jahre alt. Das sind bestimmt die Eltern mit den Großeltern, dachte Verena. Die Kinder tollten herum, und zogen dennoch unentwegt die Fußgängerzone entlang. Sie rannten nach vorne und wieder zurück, um die Erwachsenen herum, sofern genügend Platz war, schubsten sich gegenseitig, aber nicht so stark, dass sie hinfielen, lachten, und beruhigten sich wieder, um mit den Erwachsenen Schritt zu halten. Verena mochte Kinder sehr gerne. Am liebsten wäre sie Kindergärtnerin geworden, aber sie hatte sich dann doch im letzten Moment für das Studium der Betriebswirtschaftslehre entschieden. Hätte ich doch nur auf mein Herz gehört und nicht auf meinen Verstand, dachte sie nach ihrer Entscheidung immer wieder.
Verena sah in einiger Entfernung eine Kirchturmspitze und fasste den Entschluss noch für eine Weile in die Kirche zu gehen. Die Plätze im Café füllten sich und da überwiegend die Gäste zu zweit oder zu dritt kamen, fühlte sie sich alleine etwas unwohl und bezahlte ihren Kaffee, um sich dann sogleich auf den Weg in die Kirche zu machen.
Als sie die schwere Kirchtür öffnete, war keine Menschenseele anwesend. Sie bekreuzigte sich mit Weihwasser und lief den Gang entlang in Richtung Altar. An der Seite stand ein Gestell mit Kerzen, welche man anzünden konnte. Das Stück zu dreißig Cent, stand auf einem Aufkleber, der an einer Metallkassette angebracht war. Verena warf ein zwei Eurostück in den Schlitz und zündete fünf Kerzen an, je eine für ihre Eltern, eine für Katharina, eine für Susi und eine für sich selbst. Dann kniete sie sich in der ersten Bank nieder und flüsterte:
»Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden, unser tägliches Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern, und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit, Amen.«
Herr, verzeih mir, was ich vorhin getan habe, dachte Verena, indem sie im Stillen weiter betete, aber du verstehst mich doch, ich hatte den Wunsch nach Zärtlichkeit und körperlicher Nähe, auch wenn es ohne Liebe nicht richtig ist. Aber was soll ich machen? Ich wollte es einfach mal erleben. Oh Herr, wenn ich dann morgen aus dieser Welt scheide, hilf meinen Lieben zu Hause, dass sie schnell darüber hinwegkommen. Sie sind stark und werden das bestimmt schaffen. Hilf ihnen dabei. Und hilf auch mir, dass ich den Mut habe zu vollbringen, was ich mir vorgenommen habe, wie schon so oft. Hilf mir – wenigstens dieses Mal. Verena kniete auf der harten Holzbank und die Knie taten ihr schon weh. Aber sie wollte noch nicht aufstehen oder sich setzten, sie faltete ihre Hände fest zusammen und betete mit gesengtem Kopf im Stillen weiter. Ich danke dir für alles, was ich Gutes in meinem Leben empfangen habe, ich habe eigentlich nur Gutes empfangen, die Menschen waren immer gut zu mir, auch Gesundheitlich ging es mir immer gut, ich danke dir, und ich bitte dich, verzeih mir meine Sünden, die ich begangen habe und das Leid, das ich meinen Mitmenschen zugefügt habe ... und auch morgen zufügen werde. Dann setzte sich Verena hin, denn die Schmerzen in den Knien wurden immer heftiger, und sie verweilte noch viele Minuten, versunken im Beten und in Gedanken an Gott. Dann erhob Verena ihren Kopf und schaute sich die Figuren, die seitlich standen, an. Maria mit dem Jesuskind, Josef, zwei Schäflein, die Apostel Paulus und Petrus, dann sah sie auf das Kreuz mit Jesus und dachte, was hast du für uns gelitten, welche Schmerzen hast du ausgestanden in dieser Stunde ... und ich, oh Herr, ich liebe diese Welt, die Menschen, die Tiere und die Pflanzen ... ich weiß nicht, was mit mir ist, ich kann nicht dagegen ankämpfen ... warum drängt es mich immer dazu, Schluss zu machen, warum? Nimm mich auf in dein Reich, ich will zu dir, hilf mir Herr, nimm mich zu dir, sei mir Sünderin gnädig. Sie fühlte, dass sie kurz davor war in Tränen auszubrechen, aber sie wollte nicht weinen, denn es hätte jemand hereinkommen können und sie wollte nicht, dass jemand sie weinen sieht. Aber es half alles nichts. Sie konnte ihre Tränen nicht mehr verbergen und fing an zu schluchzen, das dann unweigerlich in ein Weinen mündete. Das dauerte so zwei Minuten, dann beruhigte sie sich wieder, wischte ihre Tränen ab, verließ die Kirchenbank, kniete nieder und bekreuzigte sich, und ging Richtung Ausgang. Sie bekreuzigte sich nochmals mit Weihwasser, drehte sich in Richtung Altar um und flüsterte:
»Herr, hilf mir.«
In diesem Moment, öffnete sich die Tür und der Pfarrer kam herein. Ihre Blicke trafen sich und Verena wandte sich schnell ab, denn sie schämte sich, ihrer verweinten Augen wegen. Verena fühlte, wie er ihr nachschaute, aber sie eilte zur Tür hinaus und die schwere Kirchtür fiel ins Schloss. Der Pfarrer bekreuzigte sich mit Weihwasser, erhob seine Hände und sprach mit lauter Stimme:
»Herr, hilf dieser Frau, denn sie hat große Sorgen.«
Verena eilte auf direktem Wege zu ihrem Auto und fuhr nach Hause. Zuhause angekommen nahm sie zuerst ausgiebig ein Bad und setzte sich dann anschließend in den Sessel im Wohnzimmer. Stundenlang saß sie darin, ohne etwas anderes zu machen. Dann legte sie sich ins Bett und schlief bis in den frühen Morgen an jenem Samstag. An diesem Samstag ging sie tagsüber nicht aus dem Haus, sondern ordnete ihre Sachen. Die Wohnung hatte sie schon am vorigen Wochenende blitzblank geputzt, so dass sie heute nur das Notwendigste zu erledigen hatte. Gegen Nachmittag setzte sie sich wieder in den Sessel, nahm Susi in die Arme und dachte an den Abend der ihr bevorstand. Den Termin hatte sie schon lange festgelegt, wie sie es früher schon oft getan hatte. Doch dieses Mal, dachte sie, muss es klappen.
Drei Monate vor jenem Abend hatte sich Verena an einem herrlichen Maitag mit ihren Freundinnen Sabine und Nicole getroffen. Da es an diesem Tag sehr heiß war, beschlossen sie, einen Nachmittag zusammen an einem Baggersee zu verbringen. Schon während ihrer Schulzeit verbrachten sie öfters einen Nachmittag zusammen am Baggersee, doch seit sie ihre Studien beendet hatten, lebten sie in verschiedenen Städten, so dass sie sich nur noch ab und zu an den Wochenenden sehen konnten. Sabine hatte das Lehramt eingeschlagen und unterrichtete an einem Gymnasium Deutsch und Geschichte. Nicole studierte Philosophie und arbeitete gerade an ihrer Promotion. Sie trafen sich an einem Samstagnachmittag an einem Baggersee unweit ihrer Heimatgemeinde. Sie lagen auf großen Decken im frisch gemähten Gras einige Meter vom Ufer entfernt, an dem ein großer, künstlicher Strand mit feinem Sand errichtet war. An dieser Stelle konnte man bequem ins Wasser gehen. Rechts und links davon befinden sich Laufstege aus Holz, die einige Meter in den See hinein ragen und von deren Ende man ohne Gefahr ins kühle Nass springen konnte. Häufig aber saßen die Badegäste einfach nur darauf und ließen ihre Beine davon herabhängen oder Kinder spielten darauf, allerdings nur unter der strengen Aufsicht der Erwachsenen, denn die beiden Stege signalisierten auch das Ende des flachen Badestrandes. Außerhalb dieses Bereiches fiel die Böschung am Ufer stark, fast senkrecht, ab. Der herrliche Tag lockte viele Besucher an und schon bald mussten sich die ankommenden Badegäste ein noch freies Plätzchen in der Menschenmenge suchen. Verena und Sabine hatten am Baggersee immer ihre Bikinis an während Nicole einen Badeanzug bevorzugte.
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