Verena Huth - Von Binjamin Wilkomirski zu Benjamin Stein

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Im Jahr 1995 erschien Binjamin Wilkomirskis viel beachtete Autobiografie Bruchstücke, bei der es sich vorgeblich um den Bericht eines Kinderüberlebenden von Auschwitz handelte. Seine Erinnerungen wurden später jedoch als Konfabulation erkannt – ein Medienskandal nahm seinen Lauf. In ihrer Masterarbeit untersucht Verena Huth die Feuilletondebatte, geht auf Theorien zur Gattung 'Autobiografie' sowie der Gedächtnisforschung ein und wendet sich schließlich der literarischen Rezeption des 'Wilkomirski-Falls' zu: dem 2010 erschienenen Roman Die Leinwand von Benjamin Stein, der die Konzeption authentischen Erinnerns radikal infrage stellt. Verena Huth beschreibt die Präsentation des Falls in Die Leinwand und diskutiert die sich daraus ergebenden neuen Perspektiven.

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Verena Huth

Von Binjamin Wilkomirski zu Benjamin Stein

Die literarische Rezeption eines Autobiografie-Skandals

Literatur – Medium – Praxis.Arbeiten zur Angewandten Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Jutta Müller-Tamm und Georg Witte

Band V

Verena Huth

Von Binjamin Wilkomirski zu Benjamin Stein

Die Untersuchung wurde im Sommersemester 2012 als Abschlussarbeit im Masterstudiengang Angewandte Literaturwissenschaft am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin eingereicht.

Impressum

Copyright: © 2016 Verena Huth

Verlag: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-2707-1

Satz: Peter Dietze

Weitere Informationen: www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/agwlit

Verena Huth, geboren 1986 in Hamburg, studierte Germanistik, Geschichte und Angewandte Literaturwissenschaft in Berlin und Edinburgh. Nach beruflichen Stationen in mehreren Verlagen ist sie heute in der Pressearbeit tätig. Sie lebt in Berlin.

Vorwort zur Reihe: „Literatur – Medium – Praxis“

– Arbeiten zur Angewandten Literaturwissenschaft

Die vorliegende Arbeit wurde als Abschlussarbeit im weiterbildenden Masterstudiengang Angewandte Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin eingereicht.

Der im Wintersemester 2003/04 eröffnete Studiengang bereitet auf berufliche Tätigkeiten im Bereich der Literaturvermittlung und -förderung vor und macht mit der Funktionsweise des Literaturbetriebs vertraut. Durch die Vermittlung branchenspezifischen Wissens und praktischer Fähigkeiten sollen die Studierenden in die Lage versetzt werden, ihre literaturwissenschaftlichen Fachkenntnisse in der außeruniversitären beruflichen Praxis anzuwenden. Die Lehrveranstaltungen des Studiengangs verbinden praktische Arbeit mit der theoretischen Reflexion auf die Bedingungen und Funktionen dieser Praxis. Darüber hinaus ist die Hinführung auf die Berufspraxis im Literaturbetrieb kombiniert mit der Vermittlung von vertieftem Fachwissen und Urteilsvermögen über (vor allem zeitgenössische) Literatur und ihre medialen Umsetzungen. Der Studiengang verfügt über ein enges Netzwerk an Kooperationen mit den Medien und Institutionen des literarischen Lebens, aus denen sich auch ein Großteil des Lehrpersonals rekrutiert. Dadurch ist neben dem Praxisbezug auch die stetige Aktualisierung der Lehrinhalte gewährleistet.

Die inzwischen weit über 100 Masterarbeiten des Studiengangs untersuchen unterschiedliche Aspekte der zeitgenössischen Literaturvermittlung in Verlagen, Medien, Agenturen, Literaturhäusern, Festivals und anderen Institutionen. Sie analysieren Werke der Gegenwartsliteratur, die mediale (Selbst-)Inszenierung von Autorinnen und Autoren in einem zunehmend kommerzialisierten Literaturbetrieb, den Einfluss der digitalen Revolution auf alle Akteure des Betriebs – um nur einige Beispiele zu nennen. Die Verfasser der Masterarbeiten leisten dabei oftmals Pionierarbeit, da es zu den Themen der Angewandten Literaturwissenschaft häufig kaum oder keine Forschungsliteratur gibt.

Um diese Pionierleistungen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, wurde die vorliegende Reihe initiiert. Sie veröffentlicht vom Wintersemester 2014/15 an in regelmäßigen Abständen eine Auswahl aus den besten Masterarbeiten des Studiengangs Angewandte Literaturwissenschaft.

Wir danken allen, die an der Vorbereitung der Publikationen mitgearbeitet haben, und dem Verlag Epubli für seine Kooperationsbereitschaft.

Prof. Dr. Jutta Müller-Tamm

(Institut für Deutsche und Niederländische Philologie

der Freien Universität Berlin)

Prof. Dr. Georg Witte

(Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin)

Kurzzusammenfassung

Im Jahr 1995 erschien Binjamin Wilkomirskis Autobiografie Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948 im Suhrkamp-Verlag. Dabei handelte es sich vorgeblich um den Lebensbericht eines Kinderüberlebenden von Auschwitz und Majdanek. Dass ein Kleinkind die Erinnerungen an ein solches Grauen so eindrücklich bewahren konnte, diese unvorstellbar schreckliche Leistung bildete nach damaliger Ansicht die Besonderheit des entstandenen Textes. Doch drei Jahre später brachte der Journalist und Autor Daniel Ganzfried einen Stein ins Rollen: In einem Zeitungsartikel behauptete er, dass Wilkomirskis Erinnerungen lediglich ein Fantasieprodukt seien. Mit seinem Artikel löste Ganzfried einen Medienskandal aus, in dessen Verlauf es um moralische Fragen ging: um eine mögliche Verhöhnung von Holocaust-Überlebenden, einen ‚angemessenen’ Umgang mit der Shoah und das ‚richtige’ Erinnern. Antworten auf die aufgeworfenen Fragen fand allerdings niemand. Stattdessen distanzierten sich die Journalisten von den im Jahr 1995 angeblich zahlreich veröffentlichten Lobeshymnen auf Wilkomirskis Bruchstücke und prangerten den Verzicht auf literarische Kriterien an. Dabei überzeichneten sie das vorangegangene Medienecho zu Bruchstücke erheblich, um einen größeren Skandaleffekt zu erreichen und die eigene Position zu stärken. Wilkomirski blieb bei seiner Sicht der Dinge, verstrickte sich jedoch zusehends in Widersprüche. Schließlich legte der Historiker Stefan Mächler eine umfangreiche Untersuchung vor, aus der Wilkomirskis Schweizer Herkunft fernab der von ihm geschilderten Grauen unzweifelhaft hervorging.

Mit seinem 2010 erschienenen Roman Die Leinwand lieferte Benjamin Stein eine literarische Antwort auf den Wilkomirski-Skandal. In Die Leinwand finden sich verschiedene Diskurse auf fiktionaler Ebene wieder; dem Leser werden unsichere Identitäten präsentiert. Steins Roman besteht aus zwei, von zwei verschiedenen Erzählern geschilderten Geschichten, die formal deutlich voneinander getrennt sind. Die Leinwand ist ein ‚Wenderoman‘, ohne hier eine inhaltliche Thematisierung der Ereignisse von 1989 zu meinen. Bereits an der Form lässt sich erkennen, dass es in diesem Text um das Aufeinanderprallen zweier Perspektiven, zweier Identitäten geht.

Die Unzuverlässigkeit des menschlichen Gedächtnisses – und damit auch von (Auto-)Biografien – bildet ein wichtiges Thema in Steins Roman Die Leinwand . Darin werden die Protagonisten auf unterschiedliche Arten zu ,Erinnerungsdieben‘. Zudem drückt sich die offensichtliche Macht von Erinnerungen in Ästhetisierungsversuchen der Figuren aus: Erinnerungen sollen unter Kontrolle und in Übereinstimmung mit der Vorstellung einer stabilen Identität gebracht werden. Die ungewöhnliche Anordnung der beiden Erzählungen verhindert zusätzlich ein lineares, sinnfixierendes Leseverhalten – Rezeptionskonventionen werden auf diese Weise in Frage gestellt.

Der Roman Die Leinwand bietet für den Leser eine Verstehensmöglichkeit für den Prozess der Erschaffung einer Erinnerungsfiktion und damit eine differenziertere Sicht auf den Wilkomirski-Fall. Ein mitunter manipulativer Umgang mit Erinnerungen erscheint geradezu ‚normal‘. Dieser Eindruck verbindet sich mit der Problematisierung unterschiedlicher Weltanschauungen: Es wird deutlich gemacht, dass Wahrheit auch eine Frage des Standpunkts ist – Binjamin Wilkomirski wurde auch auf der Basis eines bestimmten Wahrheitsverständnisses öffentlich verurteilt.

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