Vorwort zur Reihe: „Literatur – Medium – Praxis“ – Arbeiten zur Angewandten Literaturwissenschaft Vorwort zur Reihe: „Literatur – Medium – Praxis“ – Arbeiten zur Angewandten Literaturwissenschaft Die vorliegende Arbeit wurde als Abschlussarbeit im weiterbildenden Masterstudiengang Angewandte Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin eingereicht. Der im Wintersemester 2003/04 eröffnete Studiengang bereitet auf berufliche Tätigkeiten im Bereich der Literaturvermittlung und -förderung vor und macht mit der Funktionsweise des Literaturbetriebs vertraut. Durch die Vermittlung branchenspezifischen Wissens und praktischer Fähigkeiten sollen die Studierenden in die Lage versetzt werden, ihre literaturwissenschaftlichen Fachkenntnisse in der außeruniversitären beruflichen Praxis anzuwenden. Die Lehrveranstaltungen des Studiengangs verbinden praktische Arbeit mit der theoretischen Reflexion auf die Bedingungen und Funktionen dieser Praxis. Darüber hinaus ist die Hinführung auf die Berufspraxis im Literaturbetrieb kombiniert mit der Vermittlung von vertieftem Fachwissen und Urteilsvermögen über (vor allem zeitgenössische) Literatur und ihre medialen Umsetzungen. Der Studiengang verfügt über ein enges Netzwerk an Kooperationen mit den Medien und Institutionen des literarischen Lebens, aus denen sich auch ein Großteil des Lehrpersonals rekrutiert. Dadurch ist neben dem Praxisbezug auch die stetige Aktualisierung der Lehrinhalte gewährleistet. Die inzwischen weit über 100 Masterarbeiten des Studiengangs untersuchen unterschiedliche Aspekte der zeitgenössischen Literaturvermittlung in Verlagen, Medien, Agenturen, Literaturhäusern, Festivals und anderen Institutionen. Sie analysieren Werke der Gegenwartsliteratur, die mediale (Selbst-)Inszenierung von Autorinnen und Autoren in einem zunehmend kommerzialisierten Literaturbetrieb, den Einfluss der digitalen Revolution auf alle Akteure des Betriebs – um nur einige Beispiele zu nennen. Die Verfasser der Masterarbeiten leisten dabei oftmals Pionierarbeit, da es zu den Themen der Angewandten Literaturwissenschaft häufig kaum oder keine Forschungsliteratur gibt. Um diese Pionierleistungen einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, wurde die vorliegende Reihe initiiert. Sie veröffentlicht vom Wintersemester 2014/15 an in regelmäßigen Abständen eine Auswahl aus den besten Masterarbeiten des Studiengangs Angewandte Literaturwissenschaft.
Kurzzusammenfassung
1 Einleitung
2 Binjamin Wilkomirskis Autobiografie Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939 – 1948
2.1 Textuelle Anzeichen einer Fiktion
2.2 Der Skandal von 1998 und seine Vorboten
2.3 Überlegungen zum realen Hintergrund
3 Exkurs: Theorie der Autobiografie
3.1 Erinnerung als Basis von Autobiografien
4 Die literarische ,Wilkomirski-Rezeption‘: Benjamin Steins Roman Die Leinwand
4.1 Inhalt
4.2 Wilkomirski alias Minsky
4.3 Ein Aufbrechen von konventionellen Erzählstrukturen?
4.3.1 Chronologie
4.3.2 Erzähltheoretische Begriffe
4.3.3Bezug zu Raymond Queneaus Stilübungen
4.3.4 Selbstreferenzialität
4.4 Amnon Zichroni und Jan Wechsler
4.5 Erinnerungs- und Identitätsproblematik
4.5.1 Ästhetisierung von Erinnerungen
4.5.2 Von Normen geprägte Kindheit und Jugend, Lesehunger und Heimatverlust
4.5.3 Vom Lese- und Erinnerungsdiebstahl zum Erzählen des Romans Die Leinwand
4.5.4 Das Bad in der Mikwe als Bild für den Übergang in einneues Leben
5 Eine Neubetrachtung des Wilkomirski-Falls
6 Fazit
Literaturverzeichnis
Unsere Erinnerungen sind es, die uns zu dem machen, was wir sind. Unser Gedächtnis ist der wahre Sitz unseres Ich. Erinnerung aber ist unbeständig, stets bereit, sich zu wandeln. Mit jedem Erinnern formen wir um, filtern, trennen und verbinden, fügen hinzu, sparen aus und ersetzen so im Laufe der Zeit das Ursprüngliche nach und nach durch die Erinnerung an die Erinnerung. Wer sollte da noch sagen, was einmal wirklich geschehen ist? Vergessen, sagt mancher meiner Kollegen leicht dahin, sei der Schorf der Psyche. Wie aber unter Schorf neue Haut wächst, um die Heilung zu vollenden, entsteht auch unterm Vergessen etwas Neues. 1
Im Jahr 1995 erschienen sowohl Binjamin Wilkomirskis Autobiografie Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948 2als auch Benjamin Steins Roman Das Alphabet des Juda Liva 3. Darüber hinaus gelangte noch ein weiterer Roman auf den Markt: Daniel Ganzfrieds Der Absender 4. Vor allem durch die Ereignisse der folgenden Jahre traten diese drei Autoren in Beziehung zueinander, womit auch die Basis für eine Fiktionalisierung der Zusammenhänge geschaffen wurde.
Nach langjährigem Leidensweg entschloss sich Binjamin Wilkomirski 5, ein Schweizer Mitte fünfzig, eine Autobiografie zu verfassen und mit seiner Lebensgeschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Er brachte die Erinnerungsfetzen, die ihn schon lange geplagt hatten, zu Papier. Seine Agentin Eva Koralnik vermittelte das Manuskript an den Jüdischen Verlag im Hause Suhrkamp. Die Überzeugung, es hier mit etwas Besonderem zu tun zu haben, verbreitete sich schnell. Schließlich handelte es sich um den Lebensbericht eines Kinderüberlebenden von Auschwitz und Majdanek. Dass ein Kind gar mehrere Lager überlebte, schien so unglaublich wie wundersam. Aber dass es die Erinnerungen an das Grauen trotz seines frühkindlichen Alters so eindrücklich bewahren konnte, diese unvorstellbar schreckliche Leistung bildete nach damaliger Ansicht letztlich die Besonderheit des entstandenen Texts.
Hätte nicht Daniel Ganzfried mit seinem am 27. August 1998 in der Schweizer Zeitung Die Weltwoche erschienenen Artikel „Die geliehene Holocaust-Biographie“ einen Stein ins Rollen gebracht, wäre Wilkomirski womöglich in der öffentlichen Meinung ein positiv beachteter, schreibender Holocaust-Überlebender und Historiker geblieben. Ganzfried behauptete drei Jahre nach der Veröffentlichung der Bruchstücke , Wilkomirskis Erinnerungen seien ein Fantasieprodukt und verhöhnten damit tatsächliche Holocaust-Überlebende. Mit Blick auf seine Recherchen unterstellte Ganzfried Wilkomirski, seiner Agentin und seinem Verlag eine kaltschnäuzige Planung in der Erwartung eines finanziellen Erfolgs. 6Es folgte ein Aufschrei in den Feuilletons – zugunsten Ganzfrieds. 7Ein Medienskandal hatte seinen Anfang genommen. Der Historiker Stefan Mächler, der von Wilkomirskis Agentur mit einer umfangreichen Recherche betraut wurde, legte allerdings den Schluss nahe, Wilkomirski sei seiner eigenen Erinnerungsfiktion erlegen, habe also seine Autobiografie nicht absichtlich gefälscht.
Wie auch Daniel Ganzfried kannte Benjamin Stein Wilkomirski aus der Zeit kurz nach dem Erscheinen von Bruchstücke . Stein und Wilkomirski hatten bei einer gemeinsamen Veranstaltung auf der Leipziger Buchmesse aus ihren Büchern vorgetragen und hielten Kontakt miteinander. Vierzehn Jahre nachdem Stein Wilkomirski erstmals in der Schweiz besucht hatte, kam Steins Roman Die Leinwand im Jahr 2010 auf den Markt, der sich in fiktionalisierter Form auf den Skandal um Wilkomirski bezieht.
Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Untersuchung dieser literarischen Rezeption des Wilkomirski-Falls. Bereits im Laufe der Feuilleton-Debatte um Bruchstücke wurden moralische Fragen gestellt, solche nach dem ‚richtigen Erinnern‘ beispielsweise. Mit der Zeit meldeten sich auch Wissenschaftler 8zu Wort, u.a. aus der Literatur- und Geschichtswissenschaft. In Steins Die Leinwand werden verschiedene Diskurse gebündelt und dem Leser unsichere Identitäten präsentiert. Im zu Beginn dieser Einleitung genannten Zitat wird das kreative Potenzial von Erinnerungen beschrieben, die stets in Veränderung begriffen seien. Mit Die Leinwand wird die Diskussion um Wilkomirski auf einer fiktionalen Ebene weitergeführt – und damit in einen Bereich gelenkt, für dessen Zugehörigkeit Bruchstücke und damit Wilkomirski im Jahr 1998 angeklagt wurde. 9Dennoch, oder vielleicht gerade aus diesem Grund, stellt das Werk in Bezug auf Form und Inhalt die bisher differenzierteste Auseinandersetzung mit Wilkomirski dar.
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