Eleonore sah, wie die Frau sehnsüchtig zu ihrer Tochter hinübersah und nur den Kopf schüttelte. Diese ließ die Schultern hängen und nahm wieder das Ende ihres Zopfes in den Mund. Eleonore wurde das Herz schwer.
Nettie war die Tochter einer Hure. Einer Hure, die wollte, dass ihr Kind unterrichtet wurde, damit die Kleine es einmal besser im Leben treffen würde als sie selbst.
Es war dieselbe Frau, die vor einiger Zeit im Laden von der Verkäuferin übervorteilt worden war…
In dieser Nacht fand Eleonore lange keinen Schlaf. Zuviel ging ihr durch den Kopf. Durch Nettie kamen Erinnerungen an Ada hoch. Eleonore betete stumm für die Seele des kleinen Mädchens aus London und die ihrer Mutter.
Sie würde alles in ihrer Macht stehende tun, dass Nettie eine gute Bildung bekam und bessere Chancen im Leben haben würde als ihre Mutter.
Und Eleonore würde, so gut es ging, dieses Geheimnis hüten. Wenn herauskäme, wer Netties Mutter war,… Sie wunderte sich darüber, wie die es überhaupt geschafft hatte, ihre Tochter anzumelden, ohne dass es weiter aufgefallen wäre, dass hier eine Hure,…
Der Reverend hätte doch sicherlich nicht das Kind einer Sünderin aufgenommen? Netties Worte klangen in ihrem Kopf nach: „Der schleicht immer ums Haus und schaut zu den Fenstern rein, wenn in den Gardinen 'nen Schlitz is‘.“
Jetzt war ihr auch klar, was er da hoffte zu sehen. Dabei wetterte er doch stets gegen jede Art von Sünde und Laster. Es schüttelte sie. Ruth hatte ganz recht mit ihrer Meinung über den Mann. Sie würde noch wachsamer sein!
Schließlich fiel sie in einen unruhigen Schlaf und träumte merkwürdige Dinge:
Reverend Washington hielt Gericht. Zu seiner Seite saß sein Schoßhund.
Der Name Chastity für das Tier war ein Witz – Eleonore hatte zufällig beobachtet, wie die vermeintlich keusche Hundedame bei nächster Gelegenheit eine streunende Hündin besprungen hatte. Es handelte sich bei Chastity also entgegen der Annahme des Reverends um einen räudigen Hund.
Hund und Herrchen in ihrem Traum bildeten einen scharfen Kontrast in weiß und schwarz.
Eleonore stand vor dem Richtertisch, Netties kleine Hand in ihrer. Der Reverend fällte sein Urteil: „Eleonore Williams, Sie werden verurteilt, weil Sie gelogen haben.
Die Überfahrt nach Amerika: Erschwindelt.
Die Gouvernantenausbildung: Erschwindelt und erlogen.
Ferner werden Sie für schuldig befunden, sich mit Gesindel und Sündern gleichgetan zu haben.
Das Schlimmste jedoch ist Ihr Eigensinn, in dem Sie meinen, Frauen hätten die gleichen Rechte und die gleichen geistigen Kapazitäten wie Männer.
Zur Strafe wirst du als mein Eheweib Gehorsam lernen.“
Der Ebenezer in ihrem Traum lachte schallend und ließ sich dann von seinem Hund die Hand abschlecken.
* * *
Am nächsten Morgen wachte Eleonore früh auf, schweißgebadet.
Es war Sonntag.
Der seltsame Traum geisterte ihr noch als unangenehmes Gespenst der Nacht im Kopf herum, nachdem sie sich mit dem schon lauwarmen Wasser, das sie sich am Abend vorher aus dem Brunnen geholt hatte, gewaschen hatte und hinüber ins Haus des Pastors ging, wo Mrs Robbins ihr mürrisch wie immer ein Frühstück hinschob.
Eleonore hatte aufgegeben, mit Mrs Robbins warm zu werden. Die Frau wollte offensichtlich nicht, dass man mit ihr sprach. Wenn sie das Bedürfnis hatte, sich mitzuteilen, dann völlig unvermittelt, und sie wünschte scheinbar nie, dass man irgendetwas erwiderte, sie brauchte nur hin und wieder ein Publikum.
So löffelte Eleonore schweigend ihren Haferbrei.
Sie würde, so hatte sie sich vorgenommen, heute ein wenig in den Wald hinaus spazieren, nicht zu weit vom Ort entfernt, aber doch so, dass sie die vergleichsweise kühle Frische, die unter den dunklen Wipfeln herrschte, ungestört mit einem Buch genießen konnte. Vielleicht würde sie etwas Papier zum Schreiben mitnehmen, um die letzten Briefe zu beantworten oder neue Unterrichtsstunden zu entwerfen.
Ob sie nach Nettie sehen sollte? Dann kam ihr aber der Gedanke, dass wahrscheinlich der Sonntag der einzige Tag war, den Mutter und Tochter miteinander verbringen konnten und sie nahm wieder Abstand von der Idee.
Gerade wollte sie sich erheben, als Reverend Washington die Küche betrat.
Er nickte ihr zu. Noch ganz unter dem Eindruck ihres Traumes, senkte sie schnell den Blick und grüßte.
„Ms Williams, welch erfrischender Anblick an diesem heißen Tag!“
Er sagte nichts weiter und so nickte sie ihm auch nur kurz zu und wollte sich dann an ihm vorbei nach draußen stehlen. Er stand mit dem Rücken zu ihr und blickte hinaus. Es blieb nur ein kleiner Raum zwischen ihm und dem Tisch, gerade breit genug, dass sie sich hindurch zwängen konnte, ohne dass es unschicklich geworden wäre.
Als sie sich jedoch an ihm vorbeischob, darauf bedacht, ihn ja nicht zu berühren, aber nah genug, um sein zurückgekämmtes pomadiertes Haar glänzen sehen zu können, drehte er sich herum, so dass sein Gesicht genau über ihrem zu schweben schien. Eleonore errötete und drückte sich so weit wie möglich von ihm weg, so dass sie die harte Tischkante im Gesäß spürte.
Washington musterte sie.
„Beten Sie auch hinreichend oft, Ms Williams? Ich mache mir ein wenig Sorgen um Ihr Seelenheil. Der Gottesdienst beginnt gleich, Ms Williams. Ich würde es begrüßen, Sie dort zu sehen. Sie haben doch als Lehrerin auch eine Vorbildfunktion hier in Silver Springs.“
Die Worte flossen ihm ölig von den Lippen, aber Eleonore hörte den strengen Unterton. Sie nahm sich zusammen. Wahrscheinlich hatte er Recht, sie sollte sich im Gottesdienst blicken lassen, auch um keinen Tratsch aufkommen zu lassen. Wer wusste schon, was die Leute sonst dachten?
Und mit der Krähe wollte sie es sich auch nicht verscherzen.
„Wie wahr, Reverend. Es ist höchste Zeit, dass ich den Gottesdienst besuche. Ich sollte trotz meiner Migräne, die mich manches Mal heimsucht, nicht so oft fernbleiben.“
Die Migräne war eine Ausrede, um zu entschuldigen, warum sie bisher noch nicht dort gewesen war.
So saß sie eine halbe Stunde später im Gottesdienst und ballte vor Zorn die Fäuste.
Was der Pastor von sich gab, war fürchterlich altmodisch und gespickt mit so vielen falschen Zusammenhängen und Aussagen. Der fromme Mann schien sich sein Weltbild zurechtzubiegen, wie es ihm gerade passte.
Eleonore sah sich verstohlen um.
Die Leute um sie herum schienen sich in keinster Weise an dem zu stören, was er predigte.
Der bescheidene Raum war nicht sehr voll: In einer Stadt, die zum überwiegenden Teil aus Minenarbeitern bestand, hatte ein Großteil der Menschen keinen Sinn oder keine Muße für die Andacht am frühen Morgen.
Eleonore sah die Ladenbesitzerin Mrs Bennet, die vor einiger Zeit Netties Mutter übervorteilt hatte. Sie saß mit frömmelnder Miene da und hing an Washingtons Lippen, als ob er persönlich gerade vom Berge Sinai herabgestiegen sei.
Ihr Mann saß neben ihr, den Kopf gesenkt, den Hut in der Hand, mit hängenden Schultern.
Mrs Robbins war ebenso dort. Bei sich dachte Eleonore gemein, dass der Reverend sie vermutlich dafür bezahlte, damit es in seiner Kirche nicht so leer bliebe.
Ein paar andere Gesichter erkannte sie, auch beim Betreten der Kirche hatte man ihr vereinzelt zugenickt. Eleonore hatte sich dabei aber nicht so sehr begrüßt oder willkommen geheißen gefühlt, sondern vielmehr skeptisch beäugt.
Sie straffte die Schultern. Sie war nicht abhängig von der Meinung dieser Menschen, sie wollte lediglich den Kindern etwas Vernünftiges beibringen.
Schließlich setzte sich Washington noch an das alte Klavier, ein völlig verstimmtes, abgewetztes Instrument, und klimperte mehr schlecht als recht ein Liedchen, dem Herrn zum Lob und Preis.
Es war schauerlich.
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