„Steht in der Bibel, hat er gesagt, der Reverend. Und was in der Bibel steht, stimmt! Oder glauben Sie das nicht?“, bohrte er trotzig.
Sie suchte fieberhaft nach einer Antwort, die dem Kind zeigen würde, dass es sich der Reverend eventuell ein wenig einfach machte mit dieser Behauptung. Aber sie wollte nicht gleich am ersten Tag Washingtons Autorität untergraben.
Sie seufzte.
„Nun, Michael. Wenn das so ist, dann kannst du mir doch sicher die Stellen heraussuchen, oder?“
Überrascht sah sie der Naseweis an.
„Du hast bis übermorgen Zeit. Abgemacht?“
Ohne auch noch seine Reaktion abzuwarten, wandte sie sich dem nächsten Kind zu, einem kleinen Mädchen, das sie voller Bewunderung ansah.
„Und wer bist du?“, fragte sie die Kleine freundlich und ermutigend.
„Ich bin die Nettie Miller.“ Das Mädchen musste hicksen, sie hatte einen Schluckauf. Wahrscheinlich war sie nervös. Eleonore ging das Herz auf. Sie wollte dem Mädchen helfen, weniger aufgeregt zu sein.
„Guten Tag, Nettie Miller“, sagte sie sanft, „es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen! Was interessiert dich am meisten?“
Nettie drehte nervös ihren geflochtenen blonden Zopf zwischen den Fingern und steckte dann das Ende in den Mund, um daran zu kauen.
Dann nuschelte sie verschämt etwas Unverständliches.
Eleonore spürte, dass Nettie es nicht gewohnt war, vor einer so großen Runde zu sprechen und beließ es dabei. Sie würde sie später alleine befragen und ein besonderes Auge auf dieses kleine verschreckte Rehkitz haben.
* * *
„Nun, Ms Williams, wie läuft es denn so?“
Ebenezer Washington stand im Türrahmen. Sie konnte nur seine Umrisse sehen, denn die Sonne stand in seinem Rücken, so dass er wie ein schwarzer Schatten wirkte.
Die erste Woche war herum, die kleinen Schüler waren auf dem Weg nach Hause. Während sie unter der Woche im Ort blieben, fuhren sie alle gesammelt am Freitagmittag auf die Höfe zurück, um an den Wochenenden dort helfen zu können.
Eleonore hatte die paar Utensilien zusammengeräumt, die sie für den Unterricht verwendet hatte. Unter anderem lag die Bibel dort, aus der sie Michael die Stellen vorgelesen hatte, in denen gezeigt wurde, dass Frauen mitnichten irrationale und minderwertige Geschöpfe waren. Die Bibel war aufgeschlagen beim Buch der Richter, denn Eleonore hatte Michael und den anderen Kindern als letztes von Debora berichtet. „Du siehst also, Michael, schon in der Schrift wird von Frauen erzählt, die Berufe ausüben, welche denen der Männer gleichwertig sind. Pass also das nächste Mal auf, wenn du die Meinung anderer einfach nachsprichst, ohne dich informiert zu haben, was die Wahrheit ist. Das könnte schnell unangenehm werden.“
Sie hatte sich an alle gewandt, denn sie wollte den Bub nicht zu sehr vorführen, das würde ihn ihr nicht zum Freund machen.
„Das ist das Wichtigste, Kinder. Bevor ihr den Mund aufmacht: Denkt nach! Und macht euch eure eigenen Gedanken. Nicht alles, was man euch erzählt, stimmt notwendigerweise! Hinterfragt alles und wägt ab, bevor ihr euch eine Meinung bildet…“
Sie hatte ins Leere gestarrt, denn in diesem Moment hatte sie ganz kurz das Gefühl gehabt, ihr Vater stünde neben ihr, höre zu und wiege dann wohlwollend den Kopf.
Das Bild war so schnell verschwunden, wie es gekommen war, als Michaels Stimme zu hören gewesen war: „Aber Ms Williams!“
Eleonore hatte aufgesehen.
„Michael, wer etwas sagen möchte, hebt die Hand!“
Ungeduldig und etwas widerwillig hatte er den Finger hochgehoben. Sie hatte ihm zugenickt.
„Also, Ms Williams, wenn nicht alles stimmt, was die Leute sagen, wer sagt denn, dass Sie uns nicht Quatsch erzählen?“
Er hatte sie herausfordernd angesehen. Eleonore hatte bedächtig genickt. Kluges Kerlchen.
„Das ist ein berechtigter Einwand, Michael. Und zeigt mir, dass du nachdenkst. Sehr gut! Du kannst gerne prüfen, was ich sage. Und wenn dir etwas einfällt, was falsch ist oder dir merkwürdig erscheint, darfst du, dürft ihr alle, fragen. Dafür sind wir hier: Um zu lernen, wie man den Sachen auf den Grund geht.
Aber…“, und sie hatte den Finger mahnend erhoben, „…ihr spielt nach meinen Spielregeln. Das heißt, wer etwas zu sagen hat, hebt die Hand und wartet sittsam und höflich, bis er an der Reihe ist. Verstanden? Und nun verschwindet schon ins Wochenende!“
Als der Reverend nun hereinschaute, saß sie gerade am Schreibtisch und reflektierte die vergangenen Tage. Ihr Kopf brummte, aber auf eine angenehme Art, so als ob ihre Gehirnwindungen seit langem wieder voll beansprucht waren. Was tat diese Herausforderung gut! Auch wenn die meisten Kinder kaum Grundbildung mitbrachten, sie waren zumeist nicht auf den Kopf gefallen und es machte ihr Spaß, sich den Fragen und der Wissbegierde zu stellen.
Der Reverend kam nun ganz herein, so dass sie sein Gesicht sehen konnte. Wieder lag etwas Lauerndes darauf. Er trat an den Tisch, der als Pult diente und lugte in die aufgeschlagene Bibel. Als er die markierte Stelle sah, kräuselte er die Stirn, sagte aber nichts.
Eleonore hatte bereits überlegt, ob sie ihn einmal auf seinen Unterricht ansprechen sollte und den Unsinn, den er den Kindern beizubringen schien. Außer Michaels frecher Eingangsbemerkung war ihr schon an anderer Stelle aufgefallen, dass er vor den Schülern offensichtlich mit seinem Weltbild kaum hinterm Berg hielt und Eleonore kam das, was sie aus den Andeutungen oder Rückfragen an Schlüssen ziehen konnte, höchst bedenklich vor.
Sie wollte aber nicht den Unmut des Reverend provozieren, damit wäre niemandem gedient, und wer wusste schon, was die Kinder von ihm hatten und was sie von zu Hause mitbrachten. Sie würde behutsam vorgehen müssen.
Eleonore schickte sich an aufzustehen, um zurück in ihr Quartier zu laufen. Als sie einen knappen Gruß murmelnd am Reverend vorbeilief, fasste dieser sie plötzlich am Handgelenk. Die Berührung kam so unerwartet, dass sie zusammenzuckte. Sofort ließ er wieder los und fragte schnell: „Ms Williams, Mrs Robbins hat für morgen ein vorzügliches Mahl geplant. Erweisen Sie mir die Ehre und speisen Sie mit mir!“
Seine Frage klang wie ein Befehl. Froh, dass sie einen Grund hatte, nicht zu einer Notlüge greifen zu müssen, sah sie ihm direkt in die Augen. Sie sah dort wieder dieses merkwürdige Glühen. Er strich sich über das streng nach hinten geölte Haar. Sein Blick war überheblich.
„Reverend, Sir, das ist überaus freundlich, aber ich werde morgen von meinen Freunden erwartet.“
Um nicht allzu schroff zu klingen fügte sie noch „Ein anderes Mal gerne“ hinzu, wünschte aber im selben Moment, sie könne die Worte rückgängig machen.
* * *
Eleonore öffnete die Tür zum Gemischtwarenladen. Die Glocken über dem Eingang kündigten geräuschvoll die Ankunft der neuen Kundin an.
Eleonore sah sich um. Es war stickig und staubig in dem kleinen Laden, aber er war vollgestellt mit den herrlichsten Sachen. Sie würde vorsichtig sein müssen, dass sie nicht zu viel Geld ausgab, nun, da sie jederzeit einkaufen konnte. In der Zeit auf der Hope Ranch war sie selten nach Silver Springs gekommen. Umso mehr hatte sie ansparen können, auch wenn sie regelmäßig Geld nach England gesandt hatte.
Aber heute gab es eine gute Ausrede, um etwas auszugeben: Sie würde morgen mit Ruth, die Einkäufe zu erledigen hatte, zusammen nach Trädgård zurückfahren. Das war der Name, den Gunnar dem neuen Zuhause gegeben hatte. Es bedeutete „Garten“ in seiner Sprache. Nun wollte sie kleine Einstandsgeschenke für alle kaufen.
Sie strich vorsichtig über die Samtbänder und über das Gewebe eines Stoffballens, von dem eine Elle Stoff abgewickelt war. Wahrscheinlich war er eben einem Kunden gezeigt worden.
Eleonore überlegte: Im Winter hätte sie viel Zeit, vielleicht könnte sie sich ein schönes Kleid schneidern. Sie schalt sich gleich eitel, aber über kurz oder lang würde sie der Versuchung wohl nicht widerstehen können.
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