Plötzlich hörte Mavis ein seltsames Knacken.
Instinktiv schaute er mit einer bösen Vorahnung zur Höhlendecke und erkannte sogleich, dass er sich nicht getäuscht hatte. Die erste der beiden letzten Raketen mochte zwar zu kurz geraten sein, aber sie war dennoch so dicht neben ihnen auf die Steilküste gekracht, dass die Explosion die Deckenkonstruktion zerfetzt hatte und sich diese Erschütterung jetzt rasend schnell auch in ihren Bereich ausdehnte. Wie bei splitterndem Glas zuckte ein deutlicher Riss durch den Felsen und ließ ihn erzittern. Schon lösten sich die ersten Brocken und rauschten zu Boden. Anfangs noch in die hintere Hälfte des Hafenbeckens, doch die Einschläge kamen rasend schnell näher. Wenige Augenblicke später hatten sie die Calira erreicht.
Voller Entsetzen starrte Mavis auf das Flugboot. Deutlich konnte er sehen, dass Captain Tibak und seine Männer nahe der seitlichen Einstiegsluke standen. Auch Pater Matu war dort. Einige von ihnen hatten bereits erkannt, dass die Höhlendecke zu bersten begonnen hatte und waren ebenfalls stehengeblieben.
Viel schlimmer aber war das, was Mavis im Cockpit der Calira erkennen konnte. Denn dort waren Kabus und Biggs natürlich dabei, dass Schiff auf einen Alarmstart vorzubereiten und hatten zu diesem Zweck bereits die Triebwerksleistung erhöht. Offensichtlich wussten sie nichts von dem Schrecken, der auf sie zukam. Erst als ein weiterer Felsbrocken schräg vor ihnen ins Wasser schlug, wurden sie aufmerksam und verharrten in ihren Bewegungen. Doch da war es bereits zu spät. Einen Wimpernschlag danach krachte ein neuerlicher Trümmer mit brutaler Wucht auf die linke, vordere Seite des Schiffes und zerfetzte das Cockpit im Bereich des Copiloten. Das enorme Gewicht des Felsbrockens drückte die Calira zur Seite und für eine Sekunde auch unter die Wasseroberfläche. Dann rutschte er von der Hülle und sank in die Tiefe. Das Schiff aber richtete sich abrupt wieder auf, als im selben Moment ein weiterer Felsblock von der Decke fiel und die Calira zentral im Bereich des Laderaums erwischte, wo er mit einem ohrenbetäubenden Knall tief in die Konstruktion rauschte und das gesamte Schiff deutlich nach unten drückte, sodass Wasser durch die seitliche Einstiegsluke ins Innere dringen konnte.
Captain Tibak und seine Männer sprangen entsetzt zurück und rissen den Priester dabei um. Jorik und die anderen, die gerade ins Innere der Amarula gerannt waren, hatten längst abgestoppt und machten Anstalten umzukehren.
„Nein!“ brüllte Mavis aber sofort und streckte ihnen abwehrend seinen linken Arm entgegen. „Macht, dass ihr ins Schiff kommt. Wir kümmern uns darum!“
Im nächsten Moment sah er Vilo an sich vorbeirennen und auf die Calira zustürmen. „Vilo!“ rief ihm Kaleena entsetzt hinterher, doch ihr Mann war schon verschwunden. Also drückte sie Jovis an Leira und wollte ihm folgen.
„Nein!“ Mavis versperrte ihr den Weg und sah ihr direkt in die Augen. „Ich mache das! Geht mit Cosco!“ Er blickte neben sich und nickte dem Captain zu, der diese Geste sofort erwiderte. Die Calira war nicht mehr flugtauglich, jetzt musste er doch selber fliegen.
Mavis drehte sich um und rannte los, ohne auf eine Erwiderung Kaleenas zu warten. Zwei Sekunden später hatte er Captain Tibak erreicht. „Los zur Kitaja!“ rief er. „Aber der Captain soll auf uns warten!“ Und mit diesen Worten verschwand auch er im Inneren der Calira in dichtem Rauch, während immer mehr Wasser über die Einstiegsluke eindrang und das Schiff allmählich zu sinken begann.
„Trefferbild?“ raunte Narix dem Feuerleitoffizier zu.
„Sechs Raketen abgefeuert, alle detoniert!“ erwiderte der Mann. „Vier direkte Treffer. Zwei Nieten!“
Narix nickte nachdenklich mit finsterer Miene. „Hat das ausgereicht?“
„Ich weiß nicht, Sir?“ antwortete der erste Offizier.
Narix blickte ihn im ersten Moment überrascht an, denn eigentlich war das keine Frage an ihn gewesen, sondern nur laute Überlegungen des Captains. Dann aber nickte Narix wieder. „Gehen wir auf Nummer sicher!“ meinte er mit einem widerlichen Grinsen. „Feuern sie noch ein paar Torpedos hinterher!“
Mavis musste unweigerlich abstoppen, denn der Qualm, der ihm im Inneren der Calira entgegenschlug, war nicht nur so dicht, dass er nicht einmal die eigene Hand vor Augen erkennen konnte, sondern auch so beißend, dass es ihm den Atem verschlug. Dennoch bewegte er sich weiter vorwärts. Die Calira war ähnlich gebaut, wie alle anderen Flugboote auch, daher hatte er keine Mühe sich entsprechend in Richtung Cockpit vorzutasten.
Nach wenigen Schritten hörte er bereits Stimmen und der Qualm lichtete sich ein wenig, sodass er schemenhafte, sich bewegende Körper ausmachen konnte.
Nach zwei weiteren Schritten erkannte er in ihnen Vilo und Kabus, die sich daran zu schaffen machten, einige Trümmerteile des zerfetzten Kontrollpultes, einschließlich des Kopilotensitzes beiseite zu schaffen. Vilo drehte sich unvermittelt um und war sichtlich überrascht, seinen alten Freund zu sehen. „Mavis!?“
„Was ist los hier?“ fragte er sofort.
„Mein Onkel...!“ Kabus wandte sich um. Sein Gesicht war blutverschmiert und an der rechten Wange dunkel verfärbt. „...ist verletzt und...!“ Seine Haut war grau, seine Augen blutunterlaufen. Seine Stimme klang schwer und schmerzvoll. „...eingeklemmt!“ Kaum hatte er zu Ende gesprochen, stöhnte er erbärmlich auf, seine Beine gaben unter ihm nach und er sackte ohnmächtig zu Boden.
„Er ist auch verletzt!“ rief Vilo und schaute Mavis an. „Bring du ihn hier raus!“
Mavis sah ihn verwirrt an und machte keine Anstalten, sich zu bewegen.
„Nun mach schon!“ beharrte Vilo mit fester Stimme. „Hier ist eh nur Platz für einen!“ Er spielte damit auf die durch die Zerstörung vorherrschenden sehr beengten Platzverhältnisse im Cockpit an.
Mavis blieb noch einen Moment unschlüssig, dann nickte er. „Okay!“ Er bückte sich nach Kabus, zog ihn auf die Füße und schulterte ihn. „Aber ich komme wieder!“
Vilo schaute ihnen einen kurzen Moment hinterher, dann wirbelte er herum und machte sich daran, Biggs endgültig zu befreien.
„Torpedos Eins bis Vier sind feuerbereit!“ erklärte der Offizier.
Narix nickte zufrieden. „Dann schicken sie sie auf die Reise!“
Eine Sekunde später verließen die vier Projektile die Waffenschächte der Talura .
Mavis hatte Kabus Huckepack genommen, doch der Rauch und der Qualm im Schiff ließen ihn kaum Atem finden. Keuchend erreichte er den Kai und nahm einige tiefe Lungenzüge, dann blickte er sich um. Aber es war niemand zu sehen, alle befanden sich an Bord der anderen Schiffe.
Mavis wandte sich der Amarula zu, weil sie direkt hinter der Calira lag, um sein Packet abzuliefern und dann wieder Vilo zu helfen. Er hatte kaum ein paar Schritte getan, da stürmten Jorik, Marivar und Idis aus dem Inneren des Bootes auf sie zu.
„Hier nimm ihn!“ sagte er zu Jorik und drückte ihm Kabus kurzerhand in die Arme. „Kümmern sie sich um ihn!“ rief er Marivar zu. „Ich muss wieder zurück und Vilo helfen!“ Er schaute Jorik direkt an, der Kabus bereits schulterte. „Wir bringen noch einen Patienten!“ Er nickte Marivar zu, dann wirbelte er herum und rannte zurück zur Calira .
„Wie lange noch bis zum Aufschlag?“ fragte Narix mit reglosem Blick.
„Fünf Sekunden!“ erwiderte der Offizier.
Als er gerade die Laderampe erreicht hatte, schob sich ein schwarzer Schatten aus dem dichten Qualm im Inneren des Schiffes und er erkannte Vilo mit Biggs in seinen Armen.
Natürlich wollte er ihm sofort zu Hilfe eilen, als er plötzlich in seiner Bewegung verharrte, weil er einen entfernten, dumpfen, aber dennoch äußerst wuchtigen Donner vernahm. Schon im nächsten Moment spürte er, wie der Boden unter seinen Füßen zu vibrieren begann, als sich das Wasser im Hafenbecken auch schon - wie von Geisterhand bewegt - in die Höhe drückte und eine kleine Flutwelle auf sie zurollte. „Schnell!“ rief er Vilo zu und streckte ihm die Arme entgegen, doch kaum hatte er ihn erreicht, da wurde die Calira auch schon ruckartig in die Höhe gerissen und sie verloren auf der Einstiegsrampe das Gleichgewicht. Sie wurden in Richtung Kai gedrückt, stolperten dort in einen Trümmerhaufen und wurden von dem eiskalten Meerwasser überrollt, während die Flutwelle die Calira über die Kante hinweg ebenfalls auf den Kai wuchtete, wo sie auf dem Steinboden mehrere Meter unter einem infernalischen Quietschen in ihre Richtung rutschte und erst weniger als einen Meter vor ihnen zum Erliegen kam.
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