Aber sie hatte keinen blassen Schimmer.
Ich trat einen Schritt näher an sie heran, so dass sie meine Umrisse sehen konnte. Sie ließ den Kopf auf den Boden sinken und schloss die Augen.
»Scheiße«, stöhnte sie halblaut. »Ein Irrer.« Sie zerrte wie zur Probe an den Armfesseln. Dann mit aller Kraft. »Mist.« Sie schnaubte ärgerlich. Noch hatte sie ihre Situation nicht vollkommen verstanden. Den Ernst der Lage. Sie hatte noch Hoffnung. Sie fand sich gerade erst zurecht.
»Da lag auch ein Mädchen im Keller«, sagte ich ihr. »In einem Krimi, den du selbst lektoriert hast. Der muss doch ganz nach deinem Geschmack sein. So, wie du es gern hast.«
Sie runzelte nur die Stirn. Schüttelte den Kopf.
Ich nannte ihr den Titel des Romans, den wir hier nachspielten. Mädchenbeute . Aber sie hatte ihn wohl nur lektoriert, aber nicht gelesen. Sonst hätte sie sich befreien können. Meine Achtung vor ihr sank weiter.
Ich ging langsam um sie herum. Ihre warmen Wintersachen hatte ich ihr ausgezogen, hier im Keller war es warm genug. Sie hatte nur noch ihre Unterwäsche an. Ich beendete meine Runde und stand wieder an meinem alten Platz.
Sie war mir mit den Augen gefolgt.
»Und?«, fragte ich.
Sie schloss die Augen wieder und schien nachzudenken. »Nein. Tut mir leid. Nie gehört.«
»Du hast im Café mit der Praktikantin über meinen Krimi gesprochen«, erklärte ich. »Lea Walter. Die hatte ihn durchgelesen und fand ihn eigentlich ziemlich gut. Sie hat dir eine Synopse davon gegeben, bei Kaffee und Kuchen.« Ich ging zu ihr hinüber und setzte mich vor ihre nackten Füße.
Frau Meyer-Hinrichsen saugte die Wange auf einer Seite in den Mund ein. Sie dachte nach. »Ja, und?«
»Du hast gesagt, das wäre ein Schmarrn von einem Arschloch. Der Autor wäre deppert. So in dem Stil. Ich möge mich doch bitte zum Teufel scheren. Und Lea Walter hast du gesagt, dass sie mir eine Ablehnung schicken soll.«
»Aber sie schreibt das doch wirklich immer so nett«, versuchte sie sich rauszureden.
»Schon. Wir bedauern, leider, gegenwärtig nicht möglich, schade, viel Glück weiterhin. So was in der Art. Aber ich hatte euch beiden ja zugehört. Ich habe dich bei diesem Betrug erwischt, Mona. Und das läuft mit mir nicht.«
Sie überlegte und zerrte dann wieder an ihren rasselnden Ketten. »Lassen Sie mich hier raus! Ich verspreche Ihnen, ich lese mir Ihr Werk sofort selbst und sehr aufmerksam durch.« Sie zog wie wild an der rechten Handfessel, ihre Haut rötete sich bereits stark. Tat ihr das nicht weh? »Na los! Ich hab’ zu tun, verdammt noch mal!!«
»Du bist keine gute Lektorin«, erklärte ich ihr sehr behutsam. »Du nimmst deinen Job nicht ernst genug. Du lässt deine Arbeit von anderen machen und hörst nicht zu. Du bist faul. Du lässt dich von Wunschdenken treiben. Und du hast mich schwer beleidigt.«
Frau Meyer-Hinrichsen versuchte es an den Fußfesseln und zog mit aller Kraft die Knie hoch. Ihr Fußknöchel knackte laut. »Au! Das tut weh, Mann! Machen Sie mich sofort los! Ich muss mal!«
Ich hörte darüber hinweg. »Wir beide werden jetzt überprüfen, wie gut dein Wunschkrimi ist. Du und ich. Wir spielen das jetzt bis zum Ende durch. Du bist das Mädchen, ich bin der Täter. Ganz so, wie du es magst.«
Sie sah indigniert in meine Richtung, wie zu einem räudigen Köter, der ihr gerade einen Haufen vors Auto gesetzt hatte. »Ach leck mich doch! Lassen Sie mich sofort hier raus!« Auf ihrer Stirn erschienen trotz ihrer Forschheit die ersten Perlen der Angst. Dann fiel ihr Blick auf die Fesseln. »Und das sind meine Handschellen! Die hat mir mein Freund geschenkt!« Sie sah in meine Richtung. »Sie waren in meiner Wohnung«, stellte sie angewidert fest.
Ich trat an ihre rechte Seite, kniete nieder, klappte die lose Fliese hoch, nahm den Schlüssel heraus und zeigt ihn ihr. »Der war für die Handschellen. Mit etwas Nachdenken hättest du ihn gefunden und hättest fliehen können. Stand so in dem Roman.«
Ich stand auf, trat einen Schritt zurück und warf den Schlüssel durch das Bodengitter in den darunterliegenden Kanal. Einen Moment später platschte es dumpf, als ob er in einen zähflüssigen Morast geplumpst wäre. Irgendetwas quiekte dort unten. Und hörte ich da ein Geräusch von kleinen, trappelnden Füßchen?
»Jetzt musst du hier durch. Tut mir leid.«
Das brauchte eine Weile, um einzusinken. Die junge Frau sackte auf ihre dünne Matratze zurück und seufzte. Sie atmete tief durch. Noch hatte sie Kraft und Mut. »Ich muss jetzt wirklich dringend aufs Klo«, verlangte sie.
Schön! Ich mochte das. Sie wehrte sich mit allen Mitteln. Aufs Klo gehen war ein Naturrecht. Ein Akt der Würde. Ein Menschenrecht. Wenn ich sie ließ, hatte sie einen Punkt gegen mich gemacht.
»Zieh einfach deine Matratze etwas zur Seite«, empfahl ich ihr. »Darunter ist ein grobes Gitter und unter dem ein tiefer Schacht. Anschließend ziehst du deine Matratze wieder unter dich.«
Dass das Gitter zu einem Fluchtweg führte, hatte auch in diesem Roman gestanden, der ihr gefallen hätte. Mit dem gefolterten Mädchen im Keller. Es war ein unangenehmer und stinkiger Fluchtweg, der von dem stillgelegten, alten Schlachthof in die städtische Kanalisation führte, aber ein gangbarer Weg. Wenn sie das Gitter aufbekam. Auch dazu musste sie etwas wissen, das im Krimi gestanden hatte.
Sie klang jetzt etwas kleinlauter. »Das geht nicht. Ich komme doch nicht an mein Höschen. Und ich muss mich auch saubermachen können.« Sie sah besorgt aus, als sie das Wort Höschen aussprach. Hoffentlich führt das nicht noch zu etwas Schlimmerem, sagte ihr Gesichtsausdruck.
»Das lass mal meine Sorge sein.« Ich stellte ihr ein Glas Wasser und eine geöffnete Packung Kekse in Reichweite, drehte die Heizung runter und machte die volle Beleuchtung im Keller an. Grelles Licht flutete den verdreckten Raum. Schlafentzug wirkt Wunder, das kannte ich nur zu gut. »Ich hole dir ein paar Rentnerwindeln von oben runter. In der Zwischenzeit darfst du über deine Situation nachdenken.«
»Moooment!« Das klang wie ein Befehl. Als ob sie es gewohnt wäre, ständig das Kommando zu führen.
»Okay, ich verstehe, ich soll hier das Opfer spielen. Und Sie den Täter. Aber Sie wissen doch, wie alle Krimis ausgehen. Der Bad Guy wird am Ende immer geschnappt. Sie haben keine Chance. Man wird mich vermissen. Die haben Mittel, rauszufinden, wo ich bin. Die Polizei ist mit Sicherheit schon auf dem Weg. Die kommen Sie holen! Machen Sie mich los. Jetzt! Dann haben Sie noch eine Chance!«, sagte sie triumphierend.
»Netter Versuch«, sagte ich ihr. Aber ich ärgerte mich doch. Klar wurde der Kerl in Mädchenbeute am Ende geschnappt. Aber bis in dieses Detail wollte ich den Krimi nicht nachspielen. Mich würde niemand erwischen. Mich nicht.
»Jetzt hältst du mal schön dein freches Mundwerk.« Ich klebte ihr ein Stück Isolierband über den Mund. Sie versuchte trotzdem zu schreien. »Hier findet dich garantiert niemand.«
Ich ging zurück nach oben in mein provisorisches Lager. Dort hatte ich alles, was ich brauchte, und ich schlief auch dort. Seit meiner Zeit in Afghanistan brauche ich keine weichen Betten mehr. Härte gegen meinen Körper und gegen andere kenne ich seit meiner Kindheit.
Wenn einer wie ich zu einer katholischen Grundschule und danach aufs Canisius-Kolleg in Berlin, nach Ettal und St. Blasius gegangen ist, ist er hart im Nehmen. Physisch und sozial.
Es gibt immer noch Dinge, über die ich noch heute nicht gern rede. Aber ich hatte an diesen Schulen auch meinen ersten großen Durchbruch. Wenn Sie von Skandalen mit abhängigen Schülern an einer dieser Institutionen gelesen haben, dann war ich immer mittendrin.
Und an einer dieser Schulen war es niemand anderes als meine Wenigkeit, die den Skandal aufgedeckt hatte. Ich. Mit Pauken und Trompeten. Seit diesen Tagen kenne ich das Gefühl von Macht. Und das der Rache. Ich spürte eine leichte, prickelnde Freude in mir aufsteigen. Das konnte hier noch schön werden.
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