Bein nahm er kaum wahr. »Machen Sie schon!«
»Die Amputationen sind erst erfolgt, als kein Blut mehr im Körper war. Oder kaum noch welches. Das können wir feststellen. Was wir hier haben, ist viel zu leicht für eine normale Frau.«
»Sie ist also verblutet«, mutmaßte Bein.
»Sie ist geschächtet worden«, erklärte der Arzt. »Wie ein Hammel bei den Türken, Entschuldigung, Elena, oder von mir aus wie ein Kaninchen. Deshalb hat sie auch weniger Adrenalin und andere mit Schmerz und Angst verbundene Stoffe im Gewebe. Das tut nicht so weh. Sehen Sie, hier«, er deutete auf den Halsansatz.
»Hier ist ein Längseinschnitt in die Carotis zu sehen, der sich vermutlich noch weiter nach unten erstreckt. Hier unten am Kopf, auf der Trennfläche, war nur sehr wenig Blut. Der Kopf ist erst abgetrennt worden, als der Körper schon ausgeblutet war.« Wie um seine Worte zu beweisen, fuhr er mit einer Art Wattestäbchen über den Schnitt durch Muskeln, Knochen, Adern, Speise- und Luftröhre. »Fast nichts.«
Er zog eine andere Schublade auf. »Hier. Das ist eine Ziege, die war für ein Fest in der jüdischen Gemeinde vorgesehen. Ich bin denen gerade noch zuvorgekommen. Die kriegen die wieder, wenn das hier vorbei ist. Sehen Sie sich das bitte mal an.«
Er klappte ein Tuch zurück. Bein fragte sich, ob das aus Pietätsgründen oder der Hygiene dort lag. Der Ziegenkopf lag separat vom Körper, sodass man die Schnittstelle gut sehen konnte. »Hier. Exakt die gleichen Wunden, sehen Sie sich bitte die Gefäße an. Ich kann aber auch noch ein Schaf besorgen und das ohne Ausbluten köpfen, dann sehen Sie den Unterschied.«
»Nicht nötig«, beschied ihm Bein gallig. »Ich glaube Ihnen das gerne. Sonst noch was zu der Toten?«
Di Angelo blätterte in einer Akte, die er von einem Seitentisch genommen hatte. »Hm. Sie nimmt die Pille. Und Mittel gegen hohen Blutdruck. Viel mehr habe ich nicht. Dafür brauche ich den Rest des Körpers. Außerdem ist die offizielle Obduktion erst später. Wir haben den richterlichen Bescheid noch nicht. Wir rufen Sie an, Herr Bein.«
»Okay. Das reicht uns auch schon mal. Geschächtet!« Er schüttelte den Kopf. »Wer macht denn so was?« Er wandte sich zum Gehen. »Danke und auf Wiedersehen, Herr di Angelo.«
»Ciao, Engel«, rief seine Kollegin dem Pathologen zu.
»Hast du heute Abend schon was vor?«, fragte der zurück.
»Leider ja. Melde mich. Du weißt schon.« Denizoglu strahlte über das ganze Gesicht.
Der Pathologe grinste nur. Bein schloss rasch die Tür hinter sich. Er konnte diesen amourösen Frohsinn nicht ertragen. »Ich möchte noch zurück zur Zentralen Spurensicherung. Vielleicht haben die auch was für uns. Und dann sehen wir uns den zweiten Fundort an. Wo war das eigentlich?«
»Am Moltkeplatz.«
Bein fuhr mit seiner Kollegin zum Kriminalkommissariat 43, das wie ihr eigenes KK11 im Gebäude des Polizeipräsidiums untergebracht war.
Oberstein war ebenfalls zurück und führte sie in sein Labor. »Viel haben wir nicht«, leitete er seinen Bericht ein. »Der oder die Täter waren sehr ordentlich. Wir haben Fingerabdrücke von insgesamt sieben Personen, aber alle älter oder von der Frau selbst. Aber eins haben wir doch.« Er sah sie beide leicht von oben herab an.
»Und das wäre?«, fragte Bein genervt.
»Maden. Von Calliphora vomitoria , etwa einen Tag alt. Das ist eine Schmeißfliegenart, die vor allem im Freien und in Kuhställen und ähnlichen Umgebungen vorkommt, ein wenig größer als unsere Stubenfliege.« Oberstein nahm ein Glasröhrchen zur Hand, in dem einige lebende Exemplare herumflogen, und zeigte es ihnen. »Und hier ist die dazugehörige Made vom Bein der Leiche.« Er nahm ein anderes Glas, das ein kleines, verschrumpeltes Würmchen enthielt.
»Das beweist noch nichts, aber es lässt darauf schließen, dass die Leiche zumindest eine Zeit lang im Freien gelegen hat, oder in einem Raum mit offenen Fenstern, in einem ländlichen Gebiet. Eher nicht in der Luxuswohnung der Toten.«
Bein nickte.
Oberstein fuhr fort. »Die Made ist dann mit eingefroren worden und hat sich nicht mehr wesentlich entwickelt. Aber sie ist geschrumpft und hat Flüssigkeit verloren. Ich würde sagen, sie hat mindestens drei bis vier Wochen in der Kälte gelegen. Entsprechend lange muss das Opfer schon tot gewesen sein, plus minus drei, vier Tage. Calliphora ist ein Erstbesiedler, die Leiche muss vor dem Einfrieren noch frisch gewesen sein.«
»Die Tote ist dann vermutlich nicht in ihrer Wohnung ermordet worden, sondern ist dort nur hingebracht worden«, schloss Bein aus seinen Worten. »Der Mord liegt also schon einen Monat zurück.«
»Sie muss doch vermisst worden sein«, warf seine Kollegin ein. »Vier Wochen verschwindet doch niemand einfach so.«
»Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie weiterhelfen?«, fragte Oberstein, der sie ansah wie lästige Besucher.
»Melden Sie sich einfach, wenn Sie neue Erkenntnisse haben«, nickte ihm Bein zu. »Vielen Dank fürs Erste.«
»Jetzt aber zum Moltkeplatz«, forderte Bein seine Kollegin auf. »Danach kümmern wir uns um die Vergangenheit der Toten.«
Als sie am Moltkeplatz eintrafen, war auf der Skulpturenwiese der Teufel los. Sonst war der Platz ein eher beschaulicher Ort zwischen Straße, Bahn und Baumbestand, heute war es der belebteste Ort Essens. Drei Kollegen von der Schutzpolizei versuchten vergeblich, den Ort einigermaßen abzuriegeln, ohne Aussicht auf Erfolg.
Von allen Seiten drängten Leute mit ihren Smartphones oder Kameras auf die Grünfläche, Spaziergänger mit Hunden, Jogger und sogar ein Rollstuhlfahrer. Neben einer Marmorstatue stand neben einem in Weiß gekleideten Spurensicherer eine Frau mittleren Alters, die ihrer kleinen Tochter mit beiden Händen die Augen zuhielt.
»Mama, was hat die Frau da?«, fragte das Kind und versuchte, die Hand seiner Mutter von den Augen fortzuzerren.
Die Frau sah sich um, als sie Bein und Denizoglu näherkommen hörte. »Jemand sollte sofort das Ordnungsamt holen!«, rief sie in ihre Richtung. »Schauen Sie sich das doch nur mal an! Das ist doch keine Kunst mehr! Das ist doch Pornographie!«
»Die Frau hat den Fund hier gemeldet«, erklärte der Mann von der Spurensicherung. Bein kannte ihn nur vom Sehen.
»Labia minora stark gespreizt, Vagina erweitert, beides vermutlich postkoital«, sagte der Mann in Weiß zu dem Handy in seiner Hand. Er nahm einen ersten Befund auf.
Bein sah sich die Statue an. Sie erinnerte ihn an die Körperhaltung der Venus von Milo. Allerdings fehlten der Kopf und der linke Arm, und in der Rechten hielt sie ein offenes Buch, dessen Seiten dem fehlenden Kopf zugewandt waren. Die Statue stand mit ihren halbierten Oberschenkeln auf einem Marmorsockel von der gleichen Farbe wie das Kunstwerk selbst.
Beins Blick wanderte von den eher kleinen, halbrunden Brüsten auf die Stelle, die der Spurensicherer gerade beschrieben hatte. In der Tat waren die Geschlechtsteile überdeutlich ausgeprägt und in allen Details dargestellt. Irgendwie sah die Statue tatsächlich benutzt aus. Als ob der Künstler sie sofort nach einem Geschlechtsverkehr dargestellt hätte. Mit geradezu erschreckender Präzision, was die Geschlechtsteile anging. Sogar die Stoppeln der rasierten Schamhaare waren exakt herausgearbeitet worden.
Dann fiel bei ihm der Groschen.
»Das ist gar keine Statue!« flüsterte er, zu Denizoglu gewandt.
Die kratzte sich gerade den hübschen Kopf und schien zu überlegen.
»Flüssigkeitsspuren am rechten Oberschenkel«, notierte der Spurensicherer.
»Das ist unser fehlender Körper,« erklärte die Oberkommissarin. »Aber irgendwie zu Stein erstarrt.«
Der Spurensicherer sah sie an. »Kripo Essen?«
Denizoglu nickte nur.
»Haben wir die Personalien von der Zeugin hier?«, fragte Bein.
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