Kurz darauf huschte ein Schatten seitlich an ihr vorbei und ein lockig-blondes Mädchengesicht beugte sich vor ihr Gesicht. Blickkontakt suchend fragte das Mädchen besorgt: „Wie lange liegen Sie denn schon hier, Mrs.?“ Als eine Antwort ausblieb, versuchte es das fremde Mädchen erneut. Nach einigem Warten stellte es erstaunt fest: „Sie haben ja nur ein Nachthemd an. Was ist denn da passiert, auweia?“ Als Nächstes verdunkelte ein weiterer Schatten die Sichtverhältnisse. Vom Fußende her fragte erstaunt eine männliche, tiefer liegende Stimme: „Wie lang liegt die denn schon hier? Mann, seht euch mal ihre Kriechspur vom Meer bis hierher an!? Unser Standfund hat doch nicht etwa den gewaltigen Hurrikan letzte Woche überlebt und ist nun aus dem Meer gekrochen?“
„Yeah, Ruben“, rief eine nicht sichtbare Jungenstimme herüber, „wo soll die Frau denn sonst herkommen?“
Ruben antwortete: „Dann hat sie gerade noch überlebt?“
Und der andere, Dexter, der der Stimme nach Ältere retour: „Seh‘ ich doch gleich, mit der ist nichts mehr. Augen zu, und dann zurück ins Meer mit ihr!“
„Spinnst du, Dexter, niemals! Sie lebt doch noch. Bück‘ dich doch mal und sieh her.“
Das blonde Mädchen berührte einen Arm ihres ermattet auf dem Bauch liegenden Strandfunds, streichelte sie zaghaft über den Rücken. Die Entfernung zum Wasser abschätzend sagte sie gefühlvoll: „Sie Arme, was ist Ihnen wohl passiert?" Dann erhob sich und erklärte: „Wisst ihr was, Jungs, wir bringen Sie ins nächste Hospital. Sofort, und keine Widerrede!“
Im Rücken rief Ruben, der Jüngere: „Ich fass‘ es nicht, ihre Handtasche liegt da vorne, Mensch. Wie hat sie die nur bis hierhergeschleppt? An sich selber hat sie doch schon genug zu schleppen, ich versteh‘ das nicht.“
Dexter rief von weiter weg aus Dünenrichtung: „Kannst ja mal nachsehen, wie unsere heruntergekommene Strandschönheit heißt. Nein, check lieber, ob ihre Moneten reichen werden, um uns wenigstens unseren Abend zu sichern.“
„Strandschönheit? Wie bescheuert ist das denn, Dexter“, entsetzte sich das Mädchen, das nun neben dem ermatteten Frauenkörper stand, fortsetzend:
„Wir werden nichts anderes tun, als sie ins nächste Krankenhaus nach Elizabeth City bringen. Ihr seht ja, wie miserabel es ihr geht. Sowas hat keiner von uns je mitgemacht.“
„Das ist doch selbstverständlich“, blickte das Mädchen zu Dexter und wiederholte: „Wir retten sie zuerst, bringen sie von hier weg in Sicherheit. Erst dann könnt ihr machen, was ihr wollt, okay!“
„Ach, Milly, lass, die dahergekrochene Dame sich doch selber retten. Wir können ja ‘ne Wette abschließen, ob sie’s bis nach oben schafft. Ich schätze, dass sie es nicht schafft, wer hält dagegen?“
Parallel dazu hob der Schatten werfende Junge die soeben aufgefundene Handtasche auf, öffnete und durchwühlte sie. Kurz darauf stellte er strahlend fest:
„Hui, zweihundert Dollar im Portemonnaie, dazu drei verschiedene Lippenstifte, einen Augenspiegel, Nagelschere, Kajalstift und …? Was ist denn das? D-Mark-Scheine, die Dinger tropfen ja? Verflucht, wie eklig.”
„Was macht denn Krautwährung hier an einem recht verkommenen amerikanischen Atlantikstrand? Sieh mal nach, Reuben, vielleicht ekelst du noch mehr“, rief der ältere Junge aus Distanz herüber.
„Mein’ste, was ich gerade mache, Dexter.”
„Für Beute machen, bin ich stets zu haben, du kennst mich doch? Was ist, lohnt sich unser Fund? Was du findest, finde auch ich. Was dir gehört, gehört auch mir, also?“
Dexter, der Ältere, lief zu Reuben, dem Jüngeren, rüber, riss ihm die gefundene Damenhandtasche aus der Hand.
„Gib schon her, ich bin kundiger in so was als du.“
Schmollend händigte Reuben dem Älteren die Handtasche aus.
Dexter, eine Baseballkappe auf dem Kopf, fing an, sich den Handtascheninhalt vorzunehmen. Ein Griff, und er zog eine Grimasse ziehend, seine Hand wieder heraus: „Ieee, das Ding ist ja kaum noch zu gebrauchen! Lag wohl lange im Salzwasser, Muscheln, Tang, oder so!? So was macht jedenfalls keine Lady mehr chic, auch dich nicht, Milly! Das brauchen wir alles nicht, außer den Dollarscheinen im Portemonnaie. Die werden uns noch nützlich sein, sehr sogar! Den Rest, lass liegen. Sollen sich von mir aus die verfluchten Möwen drum kümmern.“
Reuben stellte sich zu Dexter: „Komisches Modell, wo gibt’s denn bloß so was, ich hab‘ so was jedenfalls noch nie gesehen.“
„Das dauert noch ein paar Jahre, wenn überhaupt“, ulkte Dexter: „Vielleicht Bloomingdale oder Macy? Für uns Beachboys and –girls reinste Fantasie. Leider nicht mehr zu gebrauchen.“
„Du mit einer Damenhandtasche? Sag‘ lieber, wenn alles Fantasie sein soll, was ist dann noch Realität?“
„Unfug! Moment mal, noch ein Etui? Was sich in Damenhandtaschen so alles finden lässt? Komisches Ding, nie zuvor gesehen, so was?“ Neugierig öffnete Dexter das soeben entdeckte Etui.
„Was haben wir denn da?“ Er holte etwas aus der geöffneten Damenhandtasche und hielt es am langen Arm vor sich. Dann zog er es zu sich heran, besah es: „Sieh an, sieh an, einen Reisepass. Und beim näheren Hinsehen: „Na so was, nicht Amerikanisch!“ Dexter schlug daraufhin den Reisepass auf und blätterte neugierig in ihm herum, dann ekelte er sich. „Igitt, hat wohl einiges aushalten müssen, verdrecktes Ding, kaum noch leserlich, und an so was mach ich mir nur die Pfoten schmutzig.“
„Reuben, lass den ollen Pass weg. Wenn wir nicht schnell machen, können wir die Frau gleich hier begraben. Seht, sie ist schon ganz bleich und reagiert nicht“, flehte Milly, sich von ihrem Standort nicht rührend.
„Du immer, Milly, Caritas nutzt uns doch ’n Dreck. Ist doch interessant, so einen fremden Pass mal in Händen zu halten, oder?“
„Schau mal nach, wo unser Strandfund schon überall ihn abstempeln ließ.“
Reuben zupfte dem Älteren den noch tropfenden Passfund aus der Hand:
„Gib‘ schon her, Dexter, Neugier ist der Anfang von allem.“
„Lass‘ Reuben, ich hab’ ihn schließlich entdeckt, deshalb habe ich auch das Recht, zuerst nachzusehen.“
„Lasst doch den Pass, Jungs. Die Frau muss dringend versorgt werden, sonst stirbt sie uns noch, und wir sind schuldig, nichts getan zu haben“, flehte Milly verzweifelt, nun wieder neben dem Strandfund kniend und die ermattete Frau streichelnd.
„He, was geht uns die Frau an? Hat sie eben Pech gehabt, die Kleine. Ist noch nicht mal so alt, und schon so viel Pech im Leben?“
„Einmal Pech, immer Pech, kennen wir doch auch.“
„Quatsch, nicht, Reuben. Mich interessiert viel mehr, was wir mit zweihundert Dollar heute Abend in Elizabeth City feiern sollen. Wo ist denn das nächste Spielcasino?“
„Spinn nicht gleich rum, Reuben. Wenn sie deine Fresse sehen, kommst du da sowieso nicht rein.“
„So, meinst du?“
„Kannst es ja drauf ankommen lassen.“
„Na, dann nicht, kommt endlich ihr beiden, wir wollen weiter. Die wird’s auch ohne uns machen. Kommt, krallen wir uns die Beute und hauen ab! Lassen wir sie weiter für ihr Schicksal kriechen. Am Ende müssen wir’s doch alle mal, nicht wahr?“
Neugierig im gefundenen Reisepass blätternd, rief Ruben auf einmal erstaunt: „Wow, Margarete Gruber heißt sie, die Frau ist eine Deutsche! Hier steht es, na ja, schwarz auf weiß, eine waschechte Krautfrau, Mann!“
„Noch ein Grund, die angeschwemmte Dame weiterkriechen zu lassen, findet ihr nicht?“
„Bist du nun ganz durchgedreht, Dexter? Wir machen uns strafbar, wenn wir ihr nicht helfen. Sie lebt doch noch, hat bestimmt noch ein Leben vor sich. Habt ihr nichts zu trinken dabei? Seht euch nur ihre Haut an, die Frau ist so was von erledigt. Wer weiß, wie lang sie hier schon liegt?“
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