Sein Vater strich nachdenklich über seinen grau werdenden Backenbart.
„Und was ist deine Schlussfolgerung, Jacob?“
Dieser atmete tief durch. Jetzt kam der heikelste Part. „Wir sollten für die Arbeiter eine Art Krankenversicherung einrichten. Was nützt es uns, wenn sie sich jeden Tag halb tot zur Arbeit schleppen, aus Angst, Lohn oder gar die Stelle zu verlieren, dadurch aber ihre Leistungsfähigkeit rapide abnimmt und wir dann am Ende doch gezwungen sind, ungelernte Arbeiter anzuheuern?“
Jacob beobachtete, wie sich die Stirn des Vaters in Falten legte. Man konnte förmlich sehen, wie es dahinter arbeitete. Er wusste, dass er Frederick Bradford am ehesten über die Aussicht auf Profitoptimierung für seine Idee gewinnen könnte.
„Wenn man die zwei Szenarien einmal durchrechnet...“ Er nahm einen Bleistift und skizzierte schnell und geschickt mithilfe von Modellannahmen die Eckpunkte seiner Überlegungen.
Als er geendet hatte, sah er, dass der alte Bradford nicht vollends überzeugt war. Er schien die Idee jedoch auch nicht per se abzulehnen.
„Denk einfach in Ruhe darüber nach, Vater!“
Da klopfte es an der Tür.
Jacob sah auf. „Das wird Thomas sein, wir sind zum Lunch verabredet.“ Er schob seinen Stuhl zurück. „Vater?“
„Ja, geh du nur. Ich werde hier noch etwas fortfahren.“ Mit einer zerstreuten Geste winkte der Vater ihn hinaus.
* * *
„Ein Brief für dich, Eleonore, aus Amerika!“
Müde schob ihre Mutter den Umschlag herüber und lächelte sie an.
„Wie geht es dir, mein Herz? Wir sehen uns dieser Tage ja kaum. Wie gefällt dir die neue Stellung? Sind die anderen nett?“
Eleonore brannte vor Ungeduld, den Brief von Jane zu öffnen. Deshalb gab sie, schuldbewusst darüber, dass sie sich nicht mehr Zeit nahm, mit der Mutter zu plaudern, eine kurze Zusammenfassung. Die Begegnung mit dem jungen Bradford ließ sie unerwähnt.
„Du willst den Brief lesen, ich merke schon“, stellte ihre Mutter fest und zog ihr zerschlissenes, kariertes Umhängetuch um sich. „Ich gehe runter zu Mary, dann hast du deine Ruhe.“
„Danke, Mutter.“ Eleonore senkte den Blick. Das schlechte Gewissen meldete sich leise zu Wort.
Als sie aber die Schritte auf der Stiege hörte, riss sie ungeduldig den Umschlag auf.
New York im F ebruar 1874
Meine liebe Eleonore,
nun is es wieder höchste Tseit, das ich mich bei dir melde.
Eleonore lächelte. Sie hatte Jane Schreiben und Lesen beigebracht, aber vollends hatte diese es nie zu beherrschen gelernt. Immerhin genug, um Briefe auszutauschen! Sie schrieb sehr klein und eng, um Papier zu sparen, so dass es an einigen Stellen schwierig wurde, den Bericht aus der Neuen Welt zu entziffern.
So viel ist in der Tswischenzeit pasiert:
Ich habe Anstellung in einem guten Haushalt gefunden und die Herrschaften sind gut. Der Alte krabbscht manchmal, aber es is nicht weiter schlimm und Du kennst mich ja, ich kann mich wehren.
Jane hatte nach der Ankunft in New York, als es galt schnell Fuß zu fassen, zuerst in einer Fabrik gearbeitet. Nun schien sie es geschafft zu haben, an eine ruhigere Stellung zu kommen.
Es ist ein schönes Haus, sehr groß. Und stell dir vor, Dir kann ich es ja erzählen, ich glaub, ich bin verliebt. Es gibt da diesen Jungen, er bedient die Herrschaften bei Tisch und erst hat er mich gar nicht wahrgenommen. Du müsstest ihn mal sehen, meine liebe Eleonore. Er schaut wahnsinnig gut aus. Er ist kaum viel älter als ich, 20 wird er, und die anderen Mädchen sagen, dass alle immer für ihn schwermen. Nun hats mich erwischt. Er heisst William und stell dir vor, er ist hier geboren, in Amerika!
Ich hab ihn dann die ganze Tseit nur aus der Ferne angeschmachtet. Und dann sind wir mal im Treppenhaus zusammengestoßen. Er hatte nen großen Krug Wasser dabei und der is dabei zu Bruch gegangen. Mein Rock war ganz nass gewesen. Das war ihm furchtbar peinlich (er is nemlich wirklich schüchtern, und mergt gar nich, dass alle Mädchen ihm schöne Augen machen wollen). Ich hab dann nen Witz gemacht, Du kennst ja mein loses Mundwerk.
Und dann hab’ ich ganz keck gesagt, er könnte mich ja mal auf eine Limonade einladen, tsum Ausgleich. Da isser ganz rot geworden und hat gesagt, dass er das sehr gerne machen würde.
Und dann sind wir am nächsten freien Nachmittag zusammen losgetsogen. Wir waren dann in diesem grosen Park, den es hier gibt, Central Park. Die bauen schon seit Jahren daran, so gross isser. Es war wirklich kalt, aber das hat nix ausgemacht, denn ums Herts war mir die gantse Tseit warm.
Ich will nicht so viel Papier veschwenden, ach wärst Du nur hier, dann könnt ich dir die gantse Geschichte ertsählen. Manchmal sage ich zu Richard oder Mum, wie toll es wäre, wenn Du auch hier wärst.
Schreib mir, es gibt hier viele Möglichkeiten, so wie wir uns das immer ausgemalt haben. Komm mit deiner guten Mama zu uns, das wäre doch famos. Ich hör mich um, Du bist doch so blitsgescheit, wir finden was. Und es gibt so viel zu sehen hier. So viele Leute – stell dir vor, von überall her. Mir kommt es manchmal vor, als ob auf einem kleinen Fleck gants Europa versammelt wär.
Manche sprechen noch nicht mal Englisch. Und es gibt auch noch eksotischere Menschen: Chinesen tsum Beispiel. Ich finde es immer noch gants unglaublich.
Aber genug von mir, wie geht es dir? Bist Du vielleicht auch verliebt? Gibt es jemanden, auf den Du ein Auge geworfen hast, mein scheues Reh?
An dieser Stelle klang Eleonore Janes heiteres Lachen im Ohr.
Ich muss enden, das Papier geht tsu ende, die Kertse auch. Ich denke viel an Dich, Ellini, auch wenn ich hier schon ein paar nette Mädels kennengelernt habe, so bleibst Du doch immer meine beste Freundin, nur damit Du’s weißt.
Alles Gute, ich umarme Dich, für immer die Deine
Jane
Eleonore ließ den Brief sinken. Die gute Jane... „ Komm mit deiner guten Mama zu uns, das wäre doch famos.“ So einfach nahm sie manche Dinge. Andererseits, sie und ihre Familie hatten es ja auch gewagt. Ihr Vater hatte seine ganzen Ersparnisse zusammengekratzt und hatte sich und seine Familie nach Amerika eingeschifft. Es hieß, dort gäbe es immer Arbeit. Angeblich ging es dort gerechter zu. Die Turners hatten schon für die Überfahrt gespart, als Eleonore und ihre Mutter damals in London angekommen waren. Eleonore erinnerte sich genau, denn die Vorstellung, man könne noch weiter ziehen als in die große Stadt London, ging damals über ihr Vorstellungsvermögen hinaus.
Die Zeiten waren hart. So waren Jane und Eleonore vier Jahre Freundschaft vergönnt geblieben, bevor die Passagen hatten erworben werden können. Vier Jahre, in denen sie unzertrennlich geworden waren, die eine von der anderen gelernt hatte und in denen sie jede freie Minute miteinander verbrachten.
Jane fehlte ihr und auch ihre ganze lärmige Familie.
Eleonore steckte den Brief in ihre kleine Kiste, in der sie ihre kostbaren Dinge aufbewahrte: Ein Samtband für die Haare, eine hübsche aber wertlose Brosche, die Briefe von Jane und etwas gespartes Geld.
Dann gesellte sie sich zu ihrer Mutter und Tante in die stickige Wohnküche.
Tante Mary rückte einen weiteren Stuhl an den Tisch und schob ihr einen Teller dampfende Suppe hin.
Ihr Cousin Peter, ein ungelenker Fünfzehnjähriger, schlürfte bereits vernehmbar seine Ration. Mary schien zu müde, um ihn zu ermahnen, obwohl sie sonst so viel Wert auf diese Dinge legte.
„Ist Onkel Wilbur noch unterwegs?“
Bevor sie antwortete, teilte Mary die restlichen Portionen der dünnen Suppe aus und gab sie Cathleen und Jonathan, den dreizehnjährigen Zwillingen, die ausnahmsweise ruhig und nicht zankend dasaßen.
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