Eleonore wusste, dass es in den besser gestellten Kreisen auch nicht rosiger aussah, was die Motivation von Eheschließungen anging. Wie viele arrangierte Ehen gab es dort und wie viele Liebesheiraten standen dem entgegen? Auch dort wurde doch aus niederen Motiven geheiratet. Vielleicht nicht, um möglichst viele Kinder als Altersabsicherung in die Welt zu setzen, aber zumindest, um Geld und Macht und Ruhm zu vermehren.
Außerdem, davon war sie überzeugt, war sie aufgrund des Wissens, das ihr zuteil geworden war, und der Fähigkeit, die Dinge zu hinterfragen, gar nicht in der Lage für tiefe, blinde Liebe. Dass das eine das andere gar nicht ausschloss – schließlich hatte ihr Vater auch die Mutter bedingungslos geliebt, obwohl er Eleonore den Grundsatz des ständigen Hinterfragens beigebracht hatte – und sie mit ihren achtzehn Jahren und ohne jemals geliebt zu haben, gar nicht so viel Abgeklärtheit besaß, die Dinge auf solch eine einfache, wenn auch unschöne Weise zu erklären, dass für solch ein Urteil eine ganze Portion mehr Lebenserfahrung nötig gewesen wäre, das sah sie natürlich nicht.
* * *
„Wir werden jemanden vor Ort brauchen, dem wir voll und ganz vertrauen können, Vater. Bei dem wir sicher sein können, dass er unserer Geschäftspolitik treu ergeben ist. Gerade nach dem Smith-Debakel...“
Jacob hielt die Luft an. Man konnte nie ganz sicher sein, wie der Vater darauf reagieren würde, wenn er das heikle Thema ansprach. Theobald Smith war einer ihrer besten Buchhalter gewesen. So gut, dass der Vater ihn mit der Aufsicht über das kleine Außenbüro in Kalkutta betraut hatte. So gut, dass er die Zahlen nicht in Frage gestellt hatte, die Smith ihnen aus Indien gesendet hatte.
Dass Theobald Smith, diesem Inbegriff eines durch und durch britischen Buchhalters, von den gelackten Schnurbartspitzen bis hin zu den Ärmelschonern, die tropisch-feuchte Hitze Indiens derart zu Kopfe steigen würde und er den Verlockungen vor Ort – von indischen Kurtisanen über Opium, so munkelte man – nicht standhalten konnte und er anfing, Gelder zu eigenen Zwecken abzuführen, das war ihnen erst zu spät aufgegangen. Smith war sehr geschickt vorgegangen und die Kronkolonie hatte für solche Zwecke eine wirklich komfortable Entfernung zum verregneten Mutterland. Dass Smith den glutäugigen Exotinnen nicht hatte widerstehen können, das konnte man ja noch nachvollziehen. Jacob hatte von heimgekehrten Offizieren so einiges munkeln gehört, über ihre Schönheit, über ihre Samthäutigkeit und ihre Geschicklichkeit bei gewissen Dingen, über die selbst in den Herrenclubs, in denen die Gentlemen unter sich waren, nur in Andeutungen gesprochen wurde. Aber dass Smith dafür Gelder veruntreut hatte und dann auch noch dem Opium verfallen war, und ausgerechnet Smith, der kleine, verstockte, überkorrekte Smith...
Und Jacob war der Meinung, dass die Löhne bei Bradford&Sons für die kaufmännischen Angestellten im Gegensatz zu denen der einfachen Arbeiter alles andere als schlecht waren.
Der Vater hatte damals selbst für einige Monate nach Indien reisen müssen, um die Geschichte wieder in Ordnung zu bringen und hinter Smith aufzuräumen. Eine unangenehme Episode war das gewesen. Jacob war noch zur Universität gegangen und hatte davon nur in Briefen und während seines Heimaturlaubes gehört.
„Der hinterhältige...“ Sein Vater ballte die Faust, riss sich aber gerade noch zusammen, bevor ihm ein Fluch entfuhr.
„Du hast Recht, wir müssen dieses Mal mit noch größerer Sorgfalt an die Sache heran gehen. Wenn das Geschäft in Amerika Erfolg haben soll, dann müssen wir von Anfang an jemanden schicken, der weiß, was er tut.“ Sein Blick ruhte lange und nachdenklich auf Jacob, dann schaute er aus dem Fenster. Das Büro lag nahe der Lombard Street und somit in exklusiver Nachbarschaft zu Banken, Versicherungen und anderen Handelshäusern.
„Ich werde mir dazu noch etwas einfallen lassen. Nun lass uns aber den Zahlen des letzten Monats zuwenden. Ich würde hier gerne deine Meinung hören“, schloss Bradford Senior das Thema Boston für den Moment.
Jacob war insgeheim belustigt. Dies war einer der vielen kleinen, beiläufigen Tests, die sein Vater ihm stellte. Der alte Herr hätte es nie zugegeben, aber seit Jacob nach Beendigung der Studien an der Universität im väterlichen Unternehmen eingestiegen war, wurde er einer sehr genauen Prüfung unterzogen. Damit versicherte der Vater sich, dass sein Sohn fähig war, in seine Fußstapfen zu treten.
Bradford Senior hatte nie viele Worte gemacht – im Gegensatz zur Mutter, aber vielleicht war genau das der Grund, denn bei Harriet Augusta Bradford kam man nur zu Wort, wenn sie Luft holte, oder um ihr beizupflichten. Jacob fragte sich manches Mal, wie der sachliche, nüchterne Mann es mit dieser Frau aushielt. Die beiden waren ein typischer Fall von einer Ehe, die zur Vermehrung von Kapital und Ansehen geschlossen worden war. Jacob kannte das nicht anders aus seinen Kreisen und ihn erwartete ja Ähnliches. Er setzte aber insgeheim darauf, dass er einen gewissen Einfluss auf seinen Vater geltend machen könnte, wenn es um die Wahl der Frau ging. Der Vater musste ja schließlich gut genug wissen, wie es war, mit einer Frau verheiratet zu sein, deren Charakter und Eigenschaften zu verschieden zu den eigenen waren. Jacob seufzte. Wenn er das alles doch nur so leicht nehmen könnte, wie beispielsweise Thomas. Der war in alles verliebt, was mit weiblichen Vorzügen ausgestattet war, und machte sich keine Sorgen um die Zukunft. Jacob war da vorsichtiger. Nicht, dass er den weiblichen Reizen nicht genauso hoffnungslos zugetan war, wie jeder andere Angehörige seines Geschlechts auch, aber sein Herz und damit vor allem seine Freiheit verschenkte er nicht so leicht. Abgesehen davon, dass er einfach noch Keine getroffen hatte, die ihn ehrlich faszinierte, deren Wesen er ergründen wollte, für die er im Ansatz empfand, wie es Shakespeare beschrieb, war ihm dieses Unterfangen schlichtweg zu riskant. Die Mutter würde beim ersten Aufkeimen eines noch so leisen Anzeichens einer Zuneigung sofort – vorausgesetzt es handelte sich um eine akzeptable Partnerin – alles in die Wege leiten, daraus mehr zu machen. Und er sah ja täglich, was aus einer Ehe werden konnte, die auf ein kleines Lodern am Anfang und ansonsten vor allem auf Zweckmäßigkeit für die jeweiligen Familien gegründet war. Einer Ehe, in der die Partner sehr schnell noch nicht einmal mehr Respekt füreinander aufbrachten, sondern nur nach außen hin den Schein wahrten.
Ihn hatte die Situation seiner Eltern allerdings wenig belastet. Seine Erziehung war in jungen Jahren von Gouvernanten übernommen worden, die ihm mehr Muttergestalt gewesen waren als seine eigene. Den Vater hatte er stets mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Bewunderung von Ferne wahrgenommen. Als er älter wurde, war er auf das Internat geschickt worden, um die bestmöglichste Ausbildung und Vorbereitung für die Universität zu bekommen…
Sein Vater zog nun eine Grafik hervor, in der die Ergebnisse des letzten Monats dargestellt waren.
„Nun?“ Er sah Jacob erwartungsvoll an. Der zupfte an dem feinen Stoff seines Anzuges, geschneidert bei einer der besten Adressen der Stadt – wo auch sonst?
„Vater, ich bin der Meinung, dass die Produktivität am Dock im Februar so drastisch zurückgegangen ist, weil wir diese Grippewelle zu verzeichnen hatten. Das traf vor allem die Arbeiter.“
„Aber die, die ausfielen, haben wir doch kurzfristig durch neue ersetzt. Du weißt, dass es nie ein Problem ist, in den Docks Arbeiter zu finden.“
„Das schon, Vater. Aber bedenke, dass die Abläufe bei uns etwas vom Standard abweichen, durch die Beschaffenheit der Waren und die Lageranforderungen. Ein ungelernter Arbeiter kann das nicht wissen, muss sich erst einfinden. Außerdem arbeiten viele lieber bis sie umfallen, anstatt ihre Grippe vernünftig auszukurieren, aus Angst vor Lohnverlust. Das drückt alles die Produktivität!“
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