1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 Das attraktivste Mädchen ist Elfriede. Sie ist auf ein Meter fünfundsiebzig aufgeschossen, sportlich und schlank. Je nach Geschmack auch lang und klapprig. Auf jeden Fall sehr agil und dementsprechend anstrengend. Zu anstrengend für einen gemütlichen Kerl. Siggi ist bei ihr schon abgeblitzt. Er wollte einmal Spaß vortäuschend mit ihr raufen. So wie es die Jugend eben macht, wenn sie ersten Körperkontakt sucht. Das ist ihm aber schlecht bekommen. Irgendwie schaffte er es sie von hinten zu umklammern und hochzuheben. Kurz war er verblüfft wie leicht sie ist. Für Elfriede war das die Gelegenheit ihre Karatekenntnisse zu zeigen. Schon spürte er schmerzhaft ihre spitzen Fingernägel in seinen Rippen. Er ließ sie los, sie fasste einen seiner Arme und schleuderte ihn mit dem Rücken auf das Pflaster.
Dann gibt es noch Claudia und Natascha. Die beiden sind verträglicher, aber pummelig und langweilig. Auf Hasans Hof wird den Mädchen eingetrichtert, keine Kerle an sich zu lassen. Claudia hätte es gerne, Natascha kreischt, wenn sie angefasst wird.
Zora beobachtet wie Elfriede die kleine Meggy hält, sie streichelt und an sich drückt. Irgendwie befremdet sie das. Sie überlegt wieso. Was ist daran so unnatürlich, wenn eine Vierzehnjährige mit einem Säugling schmust? Da Elfriede einmal zehn Kinder haben will, übt sie wohl den Umgang, will ein Gefühl für Babys entwickeln. Für Zora ist es trotzdem seltsam. Wann hat sie den Teenager schon einmal eng mit einem Menschen erlebt? Zoras Horizont erhellt sich umgehend. Eigentlich noch nie. Das ist es, was sie so befremdet. Elfriede meidet Körperkontakt. Mit jedem. Außer mit einem unschuldigen Neugeborenen. Noch nie hat sie jemanden in den Arm genommen oder gar umarmt. Siggi, der das probiert hat, musste es schmerzlich bereuen. Elfriede bringt es fertig vor jeden dicht hinzustehen, ihm tief in die Augen zu schauen, sich mit ihm zu unterhalten, ohne ihn jemals zu berühren. Andererseits wagt es auch niemand der agilen Intelligenzbestie auf die Pelle zu rücken. Das selten stillstehende Mundwerk hält jeden auf Distanz. Elfriede kann sich freuen, keine Frage. Aber ohne jemand um den Hals zu fallen. Wenn sie sich freut, freut sie sich mit sich. Jauchzt und lacht, hüpft auf der Stelle, dreht sich um die eigene Achse und reckt die Fäuste nach oben.
Zwischen anderen zu sitzen scheint ihr nichts auszumachen. Egal neben wem. Ob am Küchentisch oder tief in der Couch beim Filmschauen. Aber nie legt sie mal ihre Hand auf eine andere oder auf ein Knie. Ein anerkennendes Schulterklopfen wurde bei ihr auch noch nie beobachtet. Sie wird auch nie von anderen berührt. Von Männern schon gar nicht. Sie wird für etwas Besonderes gehalten, ob man sie nun leiden kann oder nicht. Elfriede ist aufgrund ihres wachen Auftretens unantastbar. Auf einmal fällt es Zora wie Schuppen von den Augen. Dass ihr das noch nie aufgefallen ist? Auch sie wird von den anderen nie berührt, angefasst oder in den Arm genommen. Und sie selber ist, obwohl sie das nicht will, distanziert wie Elfriede. Nach längerer Überlegung sieht sie es als das Schicksal überzeugender, dominanter Frauen. Mit Schönheit hat das nicht unbedingt etwas zu tun.
Zora erhebt sich. Sie hat was Besonderes vor.
Elfriede lacht Meggy an und spielt mit ihren Händen.
„Fried“, sagt Zora ernst. „Steh mal auf.“ Sie schaut in das sommersprossige Gesicht. Das Mädchen bekommt ein schlechtes Gewissen. Hat sie etwas falsch gemacht? Sie steht auf.
„Fried. Darf ich dich umarmen?“
Elfriede ist geschockt. Ihrem Gesicht nach hätte sie alles erwartet, nur das nicht. Zora lächelt milde. Fried ist beruhigt.
„Ich möchte mich endlich für deine Unterstützung bedanken.“
Das leuchtet Elfriede ein und sie lässt es geschehen. Etwas steif legt die sonst so gelenkige ihre Arme um Zora. Zora drückt das gleichgroße Mädchen fest an sich. Hält sie umklammert, so dass ihre Wärme in Elfriede fließt. Schließlich drückt das Mädchen fester zu, haucht: „Ich habe zu danken. Weil du meinem Leben eine Perspektive gibst. Weil es sinnvoll weiter geht.“
Zora grinst. „Rede nicht. So was Kluges wie du ist seine eigene Perspektive.“
Aber Elfriede ist nicht zu fassen, eine vertraute Freundschaft lässt sie nicht zu. Am Unterricht nimmt sie teil, weil sie sich das Wissen einer Abiturientin aneignen will. Sie lernt bei Zora und in medizinischen Büchern, weil sie sich das Wissen eines Arztes aneignen will. Sie spielt Geige allein im Feld, geht Joggen, nutzt auch den Sportplatz, lernt bei Freddy Karate. Und sie arbeitet viel im Kräutergarten. Liest abends bis tief in die Nacht die unmöglichsten Bücher. Trotzdem verschwindet sie immer wieder für Stunden und niemand weiß wohin. Da nun alle irgendwo ihre Lieblingsplätze haben, wird das auch Elfriede gegönnt.
Bei einem Mittagessen erwähnt Freddy einen beunruhigenden Umstand. Er sei in der Volksbank gewesen. Und auch in der Sparkasse. Aus reiner Neugier. Dann hätte er auch noch andere Banken besucht. „Überall wurde eingebrochen. In jeder Bank dieser Gegend ist die Tür zu den Schließfächern aufgebrochen. Und die Schließfächer ebenfalls. Wer macht sowas?“
Marion erinnert sich. „Ich habe auch noch ein Schließfach. In Frankfurt. Da liegen wichtige Aktien drin. Die sind bestimmt auch schon geklaut.“
„In den Fächern hier, liegen überall noch die Papiere. Aber ich gehe davon aus, dass vielleicht auch Wertgegenstände wie Schmuck oder Münzen dabei lagen. Davon keine Spur. Nirgends.“
Tom wundert sich. „Lassen die sich so leicht aufbrechen?“
„Hebelgesetz“, meint Freddy. „Mit einer langen, zugespitzten Eisenstange und einer Hebelvorrichtung geht das wie das Katzenmachen. Mich würde jetzt interessieren, wer so etwas macht. Bei Hasan drüben war es niemand. Die haben mich alle angeschaut wie die Bauklötze. Wenn es von uns niemand war, dann treibt sich hier ein Fremder herum. Oder mehrere Fremde. Das finde ich beunruhigend.“
Aha, denkt Zora. Freddy hat Angst um sein Gold und Geld. Sie grinst in sich hinein. Findet die Anwesenheit von Fremden aber ebenfalls bedrohlich.
„Heißt das“, Nico schaut verärgert, „wir müssen wieder wachsam sein? Müssen wir Wachen aufstellen?“
„Wir haben doch die Hunde“, beruhigt Otmar. „Katys Strom ist nicht zu überhören.“
„Also, bevor ihr anfangt Gespenster zu sehen“, mischt sich Elfriede ein, „ich war‘s. Ich habe im Winter die Fächer aufgebrochen und die Münzen herausgenommen.“
Die Gruppe ist platt. Einigen lösen sich vor Erstaunen die Gesichtszüge. Schütteln ihre Köpfe.
Marion ist fast entrüstet. „Für was soll das gut sein?“
„Reine Vorsorge. Wir werden einmal Zahlungsmittel brauchen“, plappert Fried locker drauf los. „Wenn man in späteren Jahren mal etwas braucht, aber nicht eintauschen kann, wird man auf ein Zahlungsmittel zurückgreifen müssen. Schwere Münzen bieten sich da an. Mit Geldscheinen wird es nicht so gut funktionieren wie mit Münzen. Ich stelle mir vor, dass unsere Enkel einmal dankbar dafür sein werden.“
„Wie kommst du bloß auf so eine Schnapsidee?“ unterbricht Freddy, obwohl das seine eigene Überlegung ist.
„Ich habe ein schlaues Buch gelesen, Economie et Consommation , da steht sowas drin.“
Zora lacht auf. „Wirtschaft und Konsum? Das wurde in einer anderen Zeit für eine andere Zukunft geschrieben.“
Elfriede schlägt ihren altklugen Ton an. „Nicht ganz. Da geht es darum, wie Wirtschaft im Prinzip funktioniert. Ganz egal ob es viele oder wenige Menschen gibt. Was begehrt ist, steigt im Wert. Wenn zum Beispiel für ein wichtiges Ersatzteil eine unentbehrliche Kuh gefordert wird, kann man stattdessen auf Zahlungsmittel ausweichen, die die natürlichen Vorlieben der Menschen ansprechen. Und das ist zum Beispiel Gold. Oder Edelsteine. Funkelnde Tauschwaren werden die Menschen auch in der Zukunft begehren, weil sie tief in ihrem Innern danach lechzen.“
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