Die Gruppe verließ die Schleuse und die Stadt umfing sie, mit einer Mischung aus dem typischen Geruch der See und wilden Blumen des Landes. Überall waren Beete mit Rasen, Blumen und sogar Bäumen angelegt worden, die ihren Teil zur atembaren Luft beitrugen. Vor zehn Jahren waren die Pflanzen von einer Faulkrankheit befallen worden und man hatte die Stadt evakuieren müssen, bis man genug erkrankte Pflanzen durch gesunde Exemplare ersetzt hatte.
„Ich brauche eure Dienste nun nicht mehr“, wandte sich Nahed an die Lanzer. „Ihr könnt euch erfrischen gehen. Sollte ich euren Schutz erneut benötigen, so werde ich euch rufen lassen.“
Er schlenderte die Hauptstraße entlang und ließ sich Zeit. Zeit, die Stadt zu sehen und seine Gedanken zu ordnen. Er war sich noch immer nicht sicher, was er dem Botschafter der anderen Stadt sagen sollte. Sein Blick glitt über die Bewohner Elunts. Erwachsene und Kinder gingen ihrem Tagewerk nach, als befände sich die Stadt im tiefsten Frieden und nicht im Überlebenskampf gegen die Flachgesichter.
Die Gebäude folgten alle der sechseckigen Grundform, aber die Seitenlängen waren nicht immer gleich, sodass sich eine überraschend abwechslungsreiche Architektur bot, denn die einzelnen Häuser waren teilweise wie Waben angeordnet, manche ragten über die Kanten unterer Gebäude hinaus oder waren wie die Stufen einer Wendeltreppe angeordnet. Es schien schwer vorstellbar, dass alle diese Gebäude von Wasser umgeben waren, solange man nicht aus einer der Fensteröffnungen auf die Fische blickte. Das Stück überdachter Straße, dem Nahed zum Regierungssitz folgte, führte zwischen den Gebäuden entlang und das Kristall der Schutzhülle erlaubte es, die Wasserlebewesen zum Greifen nahe zu erleben. In regelmäßigen Abständen erhoben sich die Rahmen der Stützkonstruktion. An jedem Gebäude befanden sich metallene Drucktüren, die im Gefahrenfall geschlossen werden konnten und die Häuser versiegelten.
Als er das Tunnelsegment verließ und das daran anschließende Gebäude betrat, weitete sich die Straße zu einer Einkaufszeile. Von den vielfarbigen Reflexen, die durch die Wasserspiegelungen hervorgerufen wurden, abgesehen, hätte es sich fast um den Marktplatz einer Landstadt handeln können. Brunnen spien Wasserfontänen in steinerne Becken, Bänke luden zum Sitzen und Plaudern ein und rechts und links der Straße reihte sich Händler an Händler. Kleidung aus den Stoffen der Landstädte wurde ebenso angeboten wie die Schuppenhautgewänder Elunts. Feine Holz- und Metallarbeiten lagen in den Auslagen und darunter viele Dinge, die sich im Leben als nützlich erwiesen oder es angenehmer gestalten konnten. Auch Nahrungsmittel gab es nun wieder in großer Anzahl und Vielfalt.
Einer der Händler erkannte Nahed und eilte auf ihn zu. „Verzeih, wenn ich dich einfach anspreche, Sha-Elunt, doch die Neugier der Stadt ist groß. Hast du entschieden?“
Nahed kräuselte ablehnend den Nasenrüssel. Es stand den Bewohnern Elunts zu, seine Entscheidung zu erfahren, doch der Herr der Stadt wollte sich nicht drängen lassen. „Die Entscheidung ist noch nicht gefallen, Händler. Ich lasse sie verkünden, wenn es an der Zeit ist.“
Der Händler merkte, dass er in seinem Eifer ein wenig zu weit gegangen war und zeigte entschuldigend die Handflächen. „Verzeiht, Herr, ich wollte euch nicht verstimmen. Meine Söhne dienen in der Marine Elunts.“
Nahed nickte bedächtig. „So dienen sie der Stadt, wie auch ich auf meine Weise. So sollten wir nun beide tun, was unsere Pflicht ist.“
Der Händler zeigte nochmals die Handflächen und zog sich zurück. Nahed war verärgert über die Störung, die ihn aus seinen Gedanken gerissen hatte. Aber er konnte den Mann verstehen. Die Entscheidung Naheds würde großen Einfluss auf das künftige Schicksal Elunts und seiner Bewohner haben und niemand konnte sie ihm abnehmen. Es war seine Pflicht, sie zu treffen. Nahed seufzte leise, als ihm bewusst wurde, dass jeder seiner Schritte ihn jenem Augenblick entgegen trug, an dem er sie verkünden musste.
Das Regierungsgebäude des neuen Elunt war von einer eigenen Kuppel geschützt. Hier gab es ein metallenes Tor, vor dem Lanzer der Stadtgarde Wache hielten.
„Willkommen zurück, Sha-Elunt“, grüßte der Wachführer und legte die Flammenlanze salutierend an die Schulter.
Nahed erwiderte den Gruß, indem er den Handrücken der rechten Hand kurz an die Stirn legte. „Befindet sich Yehed-Sha schon im Palast?“
Der Wachführer nickte. „Der Kampfherr ist schon da. Auch Korus-Sha-Dor, Sha-Elunt.“ Die Wache zögerte kurz. „Der eine begleitete den anderen, Sha.“
„Ich verstehe.“ Nahed nickte und legte der Wache anerkennend die Hand auf die Schulter. „Ein wichtiger Hinweis, Kämpfer.“
Nahed trat durch das Tor in den Tunnel, der zum Hauptgebäude führte. Der gestreute Kies knirschte leise unter seinen Schritten. Der Unterschied der groben Körner zu dem weichen Sand am Strand der Lagune erschien Nahed als Symbol für die unerfreulichen Momente, die nun kommen würden. Also hatten sich Yehed-Sha und Korus-Sha-Dor verbündet, um Naheds Meinung zu beeinflussen. Eigentlich sollte es den Herrn der Stadt Elunt nicht wundern. Auch wenn Nahed die Stadt regierte, so war Yehed immerhin ihr oberster Kampfherr. Er unterstand Naheds Befehl, aber als Truppenkommandeur der Stadt verfügte er über Einfluss. Nahed konnte Yehed nicht ignorieren, und das hatte sich Korus zu Nutze gemacht.
Er betrat das Haupthaus durch das zweite Tor, nahm dankbar eine Erfrischung entgegen, die ihm ein Bediensteter reichte. „Die Shai-Elunt wartet in der Bibliothek auf Euch, Sha-Elunt“, raunte der Mann. „Sie ist in Sorge und will Euch sprechen, bevor …“
„Ich kann es mir denken“, unterbrach Nahed und spürte erneut aufflammenden Unmut.
Glaubte denn jeder Bewohner Elunts an diesem Tag, seinen Herrn manipulieren zu können? Er leerte den Pokal, reichte ihn dem Bediensteten zurück und unterdrückte seinen Ärger, während er sich zur Bibliothek begab.
Als er die wasserdichte Tür öffnete, sah er die Shai der Stadt Elunt, die an einem der hölzernen Regale lehnte und sich nun zu ihm umwandte. Bijana verkörperte noch immer das Urbild eines Weibchens. Ihre vollendeten Formen ließen einen Mann nur zu leicht verdrängen, welch wacher Geist in diesem Körper steckte. Bijana entsprach Naheds Alter und war seit nunmehr fünfzehn Jahren mit ihm verbunden. So wie Nahed als Sha der Stadt fungierte, erfüllte Bijana ihre Aufgabe als Shai. Sie war weit mehr als nur die Frau des Stadtherrn. Als oberste Priesterin der Stadt schien Bijana für Nahed ein Gegenpol zu dem Kampfherren. Yehed besaß viel Einfluss auf die Kämpfer und Männer der Stadt, Bijana hingegen auf die Frauen und Mütter. Es wäre schwer gewesen zu entscheiden, wer über die größere Macht verfügte.
„Yehed und dieser Korus sind im Kartenraum“, sagte sie grußlos. Diese unübliche Unhöflichkeit verriet Nahed, welche Sorgen sich seine Frau machte. „Ich glaube, sie sind sich längst einig.“
„Das denke ich auch.“ Nahed trat zu ihr, nahm sie kurz in die Arme und rieb seinen Nasenrüssel zärtlich an ihrem. Für einen Augenblick versteifte Bijana sich, doch dann erwiderte sie die liebevolle Geste. Nahed löste sich von ihr. „Sie wollen, dass ich die Stadt in den Krieg schicke. Dass wir Elunt und das Volk nicht mehr nur verteidigen, sondern den Tod endgültig in das Inselreich der Flachgesichter tragen.“
Bijana blickte auf die zahllosen Bücher und Schriftrollen, welche die Regale füllten. Sie enthielten das Wissen unzähliger Gelehrter, Gelehrter des Wissens und des Geistes. Doch in den letzten Jahren war nicht oft Gelegenheit zu philosophischen Betrachtungen gewesen, obwohl Bijana gelegentlich erwähnte, gerade in Zeiten des Krieges sei Philosophie besonders wichtig. Sie erwecke das Gewissen der Krieger. Nahed hatte die Erfahrung gemacht, dass sich nur sehr wenige Krieger für geistvolle Gedanken interessierten. Ihr Interesse galt dem Überleben.
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