Vermutlich werden mich seine Erzählungen über seine Lebensgeschichte wieder eine Weile beschäftigen. Fast jede Geschichte, die ich bislang auf meinem Jakobsweg gehört habe, hat mich immer ein Stückchen begleitet. Verdränge ich dadurch meine eigenen düsteren Gedanken? Oder ist das eine Art Therapie bei der ich langsam aber sicher erkenne, dass Jeder – wirklich jeder! – sein Päckchen im Leben zu tragen hat und lernen muss damit umzugehen?
Heute habe ich mein Fahrrad mal wieder für eine Weile geschoben, denn es ging über 3 km mit 8% Steigung bergan. Selbst mein LKW wäre da extrem langsam geworden!
Ich kam an Burgos vorbei, fand die Stadt aber - bis auf die Kathedrale - nicht sonderlich beeindruckend, weshalb ich mich tapfer weiterkämpfte. Der Weg führte mich mittlerweile durch die karge Meseta-Landschaft von Kastilien und León. Hinter Burgos kamen noch zwei kurze unbefestigte Abschnitte, aber ansonsten ging es auf ruhigen Wirtschaftswegen und schmalen Landstraßen gut voran. Wenn nur nicht die Sonne so gnadenlos vom Himmel geschienen hätte…
45 Kilometer bin ich heute gefahren, aber dann ging gar nichts mehr, weshalb ich mir in einer Bar ein Taxi bestellte und mich zu meinem Etappenziel Hontanas bringen ließ.
In Hontanas kam ich mit der Französin Sandrine ins Gespräch, mit der ich mich mal wieder auf Englisch unterhielt. Mmh... Sandrine war zwar furchtbar nett, aber dennoch hatte ich irgendwie das Bedürfnis mal wieder deutsch zu reden!
Und wie es das Schicksal wollte, verbrachte ich dann den Abend tatsächlich in der netten Gesellschaft von vier Deutschen, die einer nach dem anderen auf die gleiche abgekämpfte Weise in der Bar eingetrudelt waren wie ich. Aufrechtgehend ist eigentlich keiner angekommen. Von "kriechen“ bis "lang hinschlagen" war wirklich alles dabei! Die anstrengende Etappe, verbunden mit Temperaturen von über 30 Grad, hatte uns alle an unsere Grenzen stoßen lassen. Selbst, als sich unsere nette Runde gegen 22 Uhr auflöste waren es immer noch 23 Grad draußen.
8. Tag - gefahrene Strecke 39,18 Kilometer
Hontanas - Castrojeriz – Fromista
Am nächsten Tag in Castrojeriz traf ich zufällig auf Jutta, eine der Deutschen aus der gemütlichen Runde vom Vorabend. Zusammen tranken wir einen Café con Leche und genossen die Kühle des Morgens. Es ist erstaunlich, dass man irgendwie immer wieder auf die gleichen Leute trifft. Man kennt sich, man grüßt sich, man redet miteinander wie mit alten Freunden.
Zum Glück war es heute nicht mehr ganz so heiß, aber dafür war es recht windig geworden.
Doch der Wind stand günstig und so hatte ich schon gegen 11 Uhr Dreiviertel der heutigen Strecke geschafft und ich darf mir jetzt diese schöne, lange Pause gönnen.
Letztlich war es dann doch schon 15 Uhr, als ich mir in Fromista mein Feierabendbier gönnte.
Sämtliche Knochen taten mir heute weh und meine Muskeln waren völlig verspannt, weshalb ich mir im Hotel dann erst einmal ein Bad eingelassen habe. Allerdings musste ich feststellen, dass das wegen meinem Sonnenbrand keine so gute Idee war...
Wegen dem Wind hatte ich gar nicht bemerkt, dass ich mich verbrannt hatte und dementsprechend war das heiße Badewasser nicht unbedingt angenehm…
9. Tag - gefahrene Strecke 69,4 Kilometer
Fromista - Carrión – Calzadilla de la Cueza - Bercianos del Real Camino
Bei Carrion wechselte ich mal wieder auf den offiziellen Pilgerweg – also den Weg für die Fußpilger - der ein wenig kürzer war, als die Route, die offiziell für die Radfahrer vorgesehen ist. Eine Schotterpiste führte mich dann über scheinbar endlose 10 km nur geradeaus und der Ort Calzadilla de la Cueza wollte einfach nicht auftauchen! Daraufhin musste ich unwillkürlich an das Buch von Hape denken, in dem er genau das beschreibt. Mensch Hape, dir wäre ich hier gerne begegnet!
In dem Ort traf ich auf eine Radgruppe aus Deutschland. Diese Gruppe fuhr immer abwechselnd eine Teilstrecke mit dem Rad und eine mit dem Bus. Ich schloss mich dieser Gruppe für eine Weile an, bevorzugte es dann aber ab Calzada de los Molinos wieder alleine weiterzufahren, da ich ihr zügiges und teilweise auch gnadenloses Tempo nicht mit meinem verbinden konnte. Nun, im Gegensatz zu mir konnten sie die steilsten Anstiege auslassen und ihre Kräfte somit ganz anders einteilen.
Aber ist DAS der Sinn von Pilgern? Ich glaube ehrlich, dass die Mitglieder dieser Gruppe den Jakobsweg mit vielen positiven Erinnerungen im Gepäck beenden werden, aber ich glaube auch, dass sie wesentlich mehr von diesem Weg mitnehmen würden, wenn sie auch die wahren Anstrengungen des Weges erfahren hätten und auch mal an ihre Grenzen geführt worden wären.
Kurz vor Bercianos wurde ich Zeuge eines Radunfalls. Zum Glück hat sich der spanische Fahrer bei dem Sturz nicht ernsthaft verletzt, aber sein Rad war kaputt. Ich half, indem ich ihm auf meiner Karte den Weg zur nächsten Fahrradwerkstatt in Sahagun zeigte. Er bestellte sich ein Taxi und bedankte sich überschwänglich bei mir, bevor ich mich wieder auf den Weg machte, um die letzten Kilometer dieses Tages zu bewältigen.
Irgendwann fiel mir auf, dass ich die ganze Zeit schon "You never walk alone" vor mich hin sang und mir wurde mal wieder deutlich bewusst, dass dies mein Camino ist und ich ihn genauso mache wie ich ihn für richtig halte. In meinem eigenen Tempo und nach meinen eigenen Vorstellungen. Und trotz alledem fühlte ich mich in keinem Moment allein.
Bei meiner Pause nach unglaublichen 60 km machte ich mir übrigens so meine Gedanken: 8 Tage bin ich nun schon mit dem Fahrrad auf dem Camino unterwegs und finde es nach wie vor klasse. Soll ich vielleicht einfach weitermachen und weiterfahren bis nach Santiago?
10. Tag - gefahrene Strecke: 45,13 Kilometer
Bercianos del Real Camino - León
Mein letzter Tag auf dem Rad! Und ich stellte mir erneut die Frage: Sollte ich weitermachen???
Nach zwei Kilometer gab mir mein rechtes Knie allerdings die deutliche Antwort, dass es wohl besser sei für dieses Jahr meinen Weg zu beenden. Bislang hatte es nur gelegentlich mal leicht gezwickt, aber heute habe ich wirklich Schmerzen. Und mein Orthopäde hatte mich schon früher gewarnt solche Schmerzen immer ernst zu nehmen. Ich akzeptiere sie deshalb als ein deutliches Zeichen auf meine Frage.
In einer Bar traf ich meinen "Fahrradunfall" von gestern wieder und wir tranken gemeinsam eine Tasse Kaffee. Pedro lud mich ein, denn er war mir wirklich sehr dankbar, dass ich ihm am Vortag so hilfreich zur Seite gestanden habe. Aber irgendwann hieß es "Buen camino" und es ging weiter. Und da es heute weder zu kalt noch so heiß war, kam ich super voran.
Noch 20 km, noch 15 km, noch 10... Komisch bislang hatte ich immer andersherum gezählt! Noch 5 km und schon sah ich das Ortsschild von León, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz und des ehemaligen Königreichs León. Wahnsinn!!! Ich hatte es geschafft!
Kälte am Morgen, Hitze am Nachmittag, Berge die nicht enden wollen, Staub, traumhafte Landschaften, Ruhe, schlechte Wege, verrückte Autofahrer, schnelle Abfahrten, Café con Leche bis zum Abwinken, genauso der Rotwein, freundliche Menschen, toller Zusammenhalt und der Weg... Während ich diese Zusammenfassung meines Caminos mit einem wehmütigen Blick zurück aufschreibe, kommen mir die Tränen.
Aha, es stimmt also, dass irgendwann jeder anfängt zu weinen.... Irgendwann hat einen der Weg so weit. Aber in meinem Fall sind es definitiv Tränen der Freude und des Glücks!
Christiane überlegte, was sie gemacht hätte, wenn Leo ihr tatsächlich offenbart hätte, dass er - spontan und aus einer Laune heraus – noch zehn weitere Tage in Spanien bleiben würde. Zugetraut hätte sie es Leo ohne weiteres! Vermutlich wäre ihr dann aber endgültig der Kragen geplatzt…
11. Tag - Der letzte Tag in Spanien
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