Andererseits kann ich immer noch kaum glauben, dass ich wirklich unterwegs bin... Das was ich hier erlebe ist so anders, als mein normaler Alltag, dass das vermutlich auch kein anderer glaubt, der mich kennt! Aber dank einer freundlichen Kanadierin habe ich als Beweis jedoch ein Foto.
Gedankenverloren betrachtete Christiane das Foto für das Leo extra eine Stelle in seinem Tagebuch freigehalten hatte. Ja, das war ihr Mann: Freudestrahlend und stolz wie Oskar stand er da oben auf dem Ibaneta-Pass. Welt, ich zeig dir was ich kann!
Nun ging es erst einmal bergab und als ich die Klostermauern von Roncesvalles am Fuß des Ibaneta-Passes vor mir sah war klar, dass nun erst einmal eine große Pause anstand.
Der Ort Roncesvalles liegt immer noch auf 900 Metern und ist eine wichtige Station vor allem für die Fußpilger, deren erste Etappe auf dem Jakobsweg meist hier endet. Im alten Augustinerkloster können die Pilger sogar in einem Saal aus dem 12. Jahrhundert schlafen!
Jetzt gerade genieße ich meinen ersten Café con Leche des Tages und vermutlich wird es auch noch einen zweiten geben. Nebenbei schreibe ich meine Erlebnisse und Gedanken auf. Ich muss auf diese Weise erst einmal sortieren, was mir alles durch den Kopf geht…
Nachdem beim mühseligen Anstieg sämtliche Gedanken aus meinem Kopf verschwunden waren, sind sie nun allesamt wieder da! Nicht, dass der Tod des Heerführers Rolands hier oben irgendetwas mit mir zu tun hätte, aber trotzdem fangen meine Gedanken an, um dieses eine leidige Thema zu kreisen. Der unausweichliche Tod, der einen jederzeit und überall ereilen kann. Niemand weiß an welchem Ort und auf welche Weise einen dieser treffen wird. Und für die wenigsten wird dann ein Denkmal errichtet! Im Gegenteil: Die meisten werden irgendwann einfach vergessen…
Irgendwie ist der Tod ein Thema, über das ich nie gerne nachgedacht habe. vielleicht weil ich ihm bei verschiedenen Begebenheiten immer wieder nahe gekommen bin, sei es durch meine eigenen beiden Unfälle, bei denen ich dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen bin oder dem qualvollen Tod von meinem schwerkranken Vater vor zwei Jahren oder weil ich bei meinem „Leben auf der Straße“, wie meine Frau es manchmal spöttisch nennt, immer wieder mit schweren und gelegentlich tödlichen Unfällen konfrontiert werde.
Gerade mein letzter Unfall, hat mir echt zu knacken gegeben: Aufgrund von Blitzeis war ich auf der spiegelglatten Autobahn mit dem LKW ins Schleudern geraten, wobei die Maschine sich querstellte. Ein nachfolgender LKW, der nicht mehr bremsen konnte, ist voll in meine Beifahrerseite gerast.
Ich hätte tot sein können! Und wenn man sich im Nachhinein die Fotos von meinem LKW anschaut weiß man, dass das keine Untertreibung ist, sondern dass mein Überleben an ein Wunder grenzt. Scheinbar war da oben jemand der Meinung, dass ich noch was zu erledigen habe…
Seit dieser Nacht denke ich allerdings immer wieder an dieses Gefühl der Ohnmacht, welches ich empfand, als ich den anderen LKW auf mich zuschlittern sah. Und diese Machtlosigkeit absolut nichts tun zu können, lässt mich nicht einschlafen, wenn ich mal zu zweit fahre und mein Beifahrer das Steuer übernimmt, so dass ich mich hinlegen kann.
Ich kann noch so lange auf den Beinen gewesen sein und noch so müde sein, sobald ich versuche die Augen im fahrenden LKW zu schließen, fangen meine Gedanken an zu rattern und ich sehe die beängstigenden Bilder vor mir. Ich habe wirklich Todesangst in diesen Momenten. Ich habe auch regelmäßig Albträume, in denen die Schrecken jener Nacht wieder lebendig werden. Weder mit offenen noch mit geschlossenen Augen kann ich meinen Ängsten entkommen.
Ja, ich bin feige: Ich kenne die Ursache meiner Schlafprobleme und weiß, dass ich sie nicht ohne weiteres loswerde, aber dennoch scheue ich davor zurück mir professionelle Hilfe zu suchen. Nicht mal mit Christiane kann ich wirklich offen darüber sprechen. Dann würde sie sich nur noch mehr Sorgen machen…
Ich gestehe, dass ich höllische Angst vor dem Tod habe. Niemand weiß wann er kommt, wie es passiert und schon gar nicht, was danach kommt. Ich habe Angst vor dieser Ungewissheit, Angst vor Schmerzen und Leid, Angst davor ins Nichts zu fallen! Was bleibt von mir nach meinem Tod? Wofür habe ich gelebt? Wo gehe ich bzw. meine Seele hin?
Christiane hielt nach diesem Absatz betroffen inne beim Lesen. Leos Angst vor dem Tod war ihr durchaus bekannt und sie erinnerte sich auch an die zugegebenermaßen seltenen und leider auch eher oberflächlichen Gespräche, die sie deswegen mit Leo geführt hatte. Dass ihn das Ganze wirklich so sehr belastete, hatte sie nicht gedacht.
Obwohl – oder gerade weil? – sie bislang noch keine nennenswerten Erfahrungen mit dem Tod an sich gemacht hatte, konnte sie mit dem Thema Tod recht gut umgehen. Nicht, dass sie sich grundsätzlich nicht mit dem Thema auseinander gesetzt hätte. Nein, im Gegenteil: Gerade weil sie sich damit auseinander gesetzt hatte, was der Tod eigentlich ist und wie es danach weitergehen könnte, hatte sie keine Angst davor.
Eine der wenigen Freiheiten, die sie sich zugestanden hatte und wegen der sie sich sogar ab und an einen Babysitter gegönnt hatte, war nämlich regelmäßig zu Meditationsabenden ins Buddhistische Zentrum zu gehen. Zwar war dieses in der nächstgrößeren Stadt und der Aufwand dorthin zu kommen groß, aber sie genoss die friedvolle Atmosphäre und die inspirierenden Gespräche mit den Buddhisten auch wenn sie sich nicht mit allen Aspekten der buddhistischen Lehre identifizieren konnte. Sie hatte sich in dieser friedvollen Gemeinschaft nicht nur mit dem Buddhismus im Allgemeinen beschäftigt, sondern sich explizit auch mit dessen Aussagen zum Tod und dem was danach kommt auseinandergesetzt. Sie hatte es geschafft, den Tod als etwas Unausweichliches zu akzeptieren und vertraute darauf, dass dieser dennoch nicht das Ende bedeutete, sondern eher die Transformation in eine neue Daseinsform. Ja, sie wusste, das klang für viele befremdlich und abgehoben, aber das war eine Vorstellung von Tod, die sie persönlich glauben konnte und die ihr Mut statt Angst machte. Für sie gab es weder Himmel noch Hölle, in denen die Seelen sämtlicher Wesen sich mittlerweile stapeln mussten, sondern ein Fortleben in einem anderen Körper in einer anderen Dimension.
Christiane las weiter im Tagebuch:
Auf dem Jakobsweg ging es nun erst einmal weiter bergan und bei einem Tageskilometerstand von 37,62 km ging dann gar nichts mehr. 15 km vor meinem heutigen Ziel gab ich resigniert auf. Sowohl die wirklich schwere Passauffahrt von St. Jean-Pied-de-Port nach Roncesvalles, als auch meine dunklen Gedanken haben mich fertig gemacht. Aber wie durch ein Wunder kam keine fünf Minuten später ein Taxi vorbei und nahm mich mit zu meinem Etappenziel Zubiri.
Früher war Zubiri ein sehr beliebter Ort bei Wegelagerern, weil diese an der Brücke über den Rio Arga, den Reisenden erfolgreich auflauern konnten. Diese Brücke musste auch ich überqueren, aber zum Glück saß ich im Taxi und es war kein Wegelagerer in Sicht.
In einer kleinen Bar, wie man sie überall hier in den Orten am Camino findet, gönnte ich mir erst einmal einen weiteren Café con Leche. Und nachdem ich mich in meiner Unterkunft, einer kleinen Pension, frisch gemacht hatte, traf ich mich mit Bernhard aus Fulda, den ich in der Bar kennengelernt hatte, zum Abendessen.
Extra für Pilger gibt es in den meisten Restaurants und Bars am Weg das "Menu del peregrino", das Pilgermenü, welches immer um die 10 € kostet und Vorspeise, Hauptspeise und Dessert sowie eine Flasche Wasser oder Wein beinhaltet.
Letztlich saß ich an diesem ersten „richtigen“ Abend auf dem Camino mit neun weiteren Deutschen am Tisch. Der Spaß kam nicht zu kurz, aber manchmal wurde es auch ganz ernst, denn der Rotwein löste die Zunge. Um Ende des Abends waren es zehn Flaschen Rotwein, die wir gemeinsam geleert haben... Darum wird es auch nun dringend Zeit fürs Bett. Hicks.
Читать дальше