„Auch der weiteste Weg
beginnt mit dem ersten Schritt“
(Konfuzius)
Nachdem es also beschlossene Sache war, dass Leo auf den Jakobsweg gehen würde - zumindest hatte kein Widerspruch und keine Argumentation mehr Sinn, nachdem Leo einmal den Entschluss gefasst hatte - begann er konsequent sein Vorhaben in die Tat umzusetzen: Er schaffte ein nagelneues und noch dazu teures Fahrrad an, welches perfekt auf seine Größe und sein Vorhaben abgestimmt war. Außerdem ließ er sich in den entsprechenden Fachgeschäften ausgiebig beraten, was die passenden Fahrradtaschen, Radfahrkarten sowie die entsprechende Outdoor-Ausrüstung anbelangte. Er wollte schließlich für alle Eventualitäten gerüstet zu sein.
Nicht, dass Leo jemals ein ambitionierter und versierter Ausdauersportler gewesen wäre, nein, im Gegenteil: Obwohl er ein bekennender Couchpotatoe war, meinte er dieses Abenteuer bewerkstelligen zu können. Trotz all der umfassenden und umsichtigen Vorbereitungen fing er nicht an in irgendeiner Weise zu trainieren, sondern vertraute darauf, dass er sein Ziel auch so erreichen würde. Es ging ihm ja schließlich nicht um die sportliche Herausforderung, sondern um die wundersamen Dinge, die mit einem geschehen sollten und die einem widerfahren würden, wenn man auf dem Jakobsweg unterwegs war. Da war es doch egal, ob er einen Berg nun mit dem Rad hochfuhr oder es gemächlich hochschob. Hauptsache er war unterwegs und kam irgendwann ans Ziel!
Manche sprachen von der Magie, manche von der Mystik, die der Weg ausstrahlte. Aber das klang in Leos Ohren dann doch etwas zu abgehoben. Im Prinzip war Leo einfach nur neugierig. Das war sein offizieller Grund, warum er auf den Jakobsweg wollte. Punkt.
Der inoffizielle Grund, den er, andeutungsweise, in einem schwachen Moment Christiane gegenüber erwähnte, war, dass er Antworten suchte. Antworten auf Fragen, die er allerdings noch nicht kannte, wie er selber zugeben musste. Fragen, die aber tief in ihm vorhanden waren, die er aber noch nicht in Worte fassen konnte. Deshalb wusste er mit absoluter Sicherheit, dass er diesen Weg gehen wollte, ja, sogar gehen musste.
Tatsächlich waren solch spirituell anmutenden Gedanken eigentlich überhaupt nicht seine Art. Das war ja eher Christianes Fachgebiet, wie er gelegentlich mit einem Augenzwinkern feststellte. Er war ein Mann, der mit beiden Beinen fest im Leben stand, seinen Job konzentriert und zuverlässig erledigte, aber – wie er freiwillig eingestand - in seiner Freizeit zum Ausgleich eher anspruchslose Beschäftigungen bevorzugte. Seichte Krimis, Online-Spielchen oder sich einfach vom Fernsehprogramm berieseln lassen und dabei einschlafen. Das war seins! So konnte er abschalten und den Alltag vergessen.
Das Buch von Hape Kerkeling hatte er eigentlich nur gelesen, weil er den Komiker gut leiden konnte und weil Christiane so begeistert davon war. Sie hatte ihm das Buch auch gegeben nachdem sie es gelesen hatte und gemeint, dass dies ein Buch sei, welches sogar er interessant finden würde.
Er hatte das Buch daraufhin mit in seinen LKW genommen und in seinen Pausen darin gelesen. Und dann hatte ihn das Buch irgendwie gepackt und die Idee selber den Jakobsweg zu gehen, hatte ihn einfach nicht mehr losgelassen.
Er machte sich nichts vor: Gehen bezugsweise wandern würde er den Weg definitiv nicht. Schließlich war er Kraftfahrer und kein Kraftläufer, wie er so manchem, egal ob der es hören wollte oder nicht, mit einer gewissen Selbstironie erklärte. Fakt war, dass er nach ein paar blöden Missgeschicken und schweren Unfällen körperlich nicht voll belastbar war. Aber den Weg mit dem Rad zu fahren, das konnte er sich sehr gut vorstellen.
Eine erste Ahnung von den Strapazen des Jakobsweges erhielt Leo, als er im Oktober des Jahres, in dem er den Beschluss gefasst hatte auf den Jakobsweg zu gehen, den Weg vor der Haustür beginnend über Münster, Dortmund, Köln bis nach Aachen fuhr. Insgesamt gute 350 km. Eine Woche hatte er dafür gebraucht und er war in dieser relativ kurzen Zeit definitiv schon an seine Grenzen gestoßen.
Aber obwohl er sich mehr als einmal total verfahren hatte, obwohl stetiger Regen ihn langsam aber sicher zermürbte, obwohl er aufgrund eines Fahrfehlers erst einmal eine Werkstatt aufsuchen musste und dabei einen halben Tag verloren hatte, und obwohl er an jedem Abend am Ende seiner Kräfte war, gab es auf dem Weg so viele positiven Erfahrungen und Lichtblicke, dass es gar nicht für ihn in Frage kam von seinem großen Vorhaben abzulassen. Im Gegenteil: Der Weg hatte ihn gepackt und nun erst recht seinen Ehrgeiz und seine Neugierde geweckt.
Er war an jedem Tag neuen Menschen begegnet, gelegentlich auch mal dem ein oder anderem Pilger, sah am Weg imposante Kirchen und beeindruckende Orte wie den Papsthügel im Marienfeld bei Kerpen oder den Kölner und den Aachener Dom. Er schlief in Gasthöfen, aber auch mal in einem Pfarrhaus oder in einem Kloster. Er frühstückte und betete mit Nonnen, ließ sich aber in den Cafés am Wegesrand auch mal genüsslich eine Tasse Kaffee mit einem Stück warmen Pflaumenkuchen schmecken.
Besonders prägte ihn jedoch der Moment in einem kleinen Pilgerladen - irgendwo am Weg - als ihm die Verkäuferin die gerade gekaufte blaue Muschelkette an einem schwarzen Lederband um den Hals legte, verbunden mit dem Versprechen diese erst wieder in Santiago abzulegen. Dieser Moment hatte Leo zutiefst berührt und er war sicher – komme was wolle – dass er Santiago erreichen würde.
„Alle sagten immer das geht nicht,
dann kam jemand der das nicht wusste
und hat es einfach gemacht!“
Christiane hatte sich an diesem Abend eine Kanne Kräutertee gemacht und goss sich nun eine Tasse davon ein. Dann machte sie es sich mit einer kuscheligen Decke auf dem Sofa bequem. Die Kinder waren bereits in ihren Zimmern und somit herrschte im Haus eine friedliche Stille.
Trotz der entspannten Atmosphäre nahm sie das kleine schwarze Notizbuch mit einem leichten Gefühl des Unbehagens in die Hand. Dieses Notizbuch hatte Leo während seiner Zeit auf dem Jakobsweg als Tagebuch gedient.
Sie hatte es erst gestern vom Speicher geholt nachdem sie es im Herbst letzten Jahres, zusammen mit anderen Erinnerungsstücken an Leos Jakobsweg, dort oben in einem Karton verstaut hatte. Sie hatte sich damals die Sachen nicht wirklich angeschaut, denn ansonsten hätten ihre Gefühle sie vermutlich überwältigt. Da waren Trauer, Wut, Verzweiflung und immer noch das Unvermögen das Unfassbare zu begreifen.
Christiane atmete tief durch und fing an in dem recht ramponiert ausschauendem Notizbuch zu blättern. Ehrlich erstaunt stellte sie dabei fest wie viel Mühe Leo sich damit gemacht hatte. Er hatte viele Seiten mit seiner leicht krakeligen Handschrift gefüllt und immer wieder Platz für Postkarten, Fotos und andere Andenken gelassen, die er wohl gesammelt beziehungsweise zu einem späteren Zeitpunkt nach seiner Rückkehr ausgedruckt hatte, um sie dann an den entsprechenden Stellen aufzukleben. Christiane berührte es tief in ihrem Inneren, dass Leo trotz seiner nicht zu leugnenden feinmotorischen Defizite die Geduld und die Konzentration aufgebracht hatte, dieses Tagebuch zu schreiben und zu gestalten.
Sie blätterte nun zurück auf die erste Seite. Im Mai vor drei Jahren hatte Leo begonnen in diesem Notizbuch, seinem Jakobsweg-Tagebuch, zu schreiben, denn schließlich und endlich war es so weit gewesen: Nach all den Vorbereitungen auf den Camino, wie der Jakobsweg auch genannt wurde, und auch all den Auseinandersetzungen, die es deswegen gegeben hatte, machte Leo sich auf den Weg.
Christiane erinnerte sich noch sehr gut an diese teils doch recht langwierige und nervenaufreibende Vorbereitungszeit auch wenn ihr Anteil an der Planung und Umsetzung eher gering gewesen war. In dem Feuereifer, mit dem Leo sich auf seinen Jakobsweg vorbereitete, war seine Familie, mit ihren Bedürfnissen und Erwartungen an ihn, nämlich spürbar in den Hintergrund getreten. Sie hatte sich deshalb ganz bewusst und konsequent – und vielleicht auch ein bisschen eingeschnappt - aus dieser Angelegenheit herausgehalten!
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