Gerade war sie aus einer Ehe geflüchtet, die sie seelisch zu einem Frack gemacht hatte. Ihr Ex-Mann hatte ihr sämtliches Selbstbewusstsein geraubt, sie ständig kontrolliert und bei allem, was sie ohne ihn tat sein Misstrauen gezeigt. Zum Schluss schreckte er nicht einmal vor physischer Gewalt zurück.
Leo war da ganz anders. Zwar mit einem großen Mundwerk und oftmals – seinem Sternzeichen entsprechend - dem Temperament eines dickköpfigen Stiers, aber zumindest Christiane gegenüber verhielt er sich eher wie ein sanfter Riese. Sie empfand ihn im Grunde seines Wesens als gutmütig und er gehörte für sie eindeutig in die Kategorie „tapsiger Bär“, weil er, gerade wenn es um Feingefühl und Feinmotorik ging, seine Defizite hatte. Er hatte auch ein besonderes Talent dafür jedes Fettnäpfchen zu treffen.
Wenn Leo mal wütend wurde - was gelegentlich auch mal geschah - dann war das vorhersehbar und berechenbar. Bei Christianes Ex-Mann war das Gegenteil der Fall gewesen...
Dennoch wusste Leo durchaus, was er wollte, und er forderte auch regelmäßig seine Freiheiten ein: Die Freiheit seinen Traumberuf – Fernfahrer! - auszuüben und teilweise wochenlang und europaweit auf der Straße unterwegs zu sein. Die Freiheit seine spärliche Freizeit weitgehend selbst zu bestimmen oder - wie bei diesem Gespräch - die Freiheit etwas total Verrücktes zu tun.
Der Fairness halber musste Christiane sich jedoch eingestehen, dass Leo auch Christiane diese Freiheiten zugestand. Auch sie war grundsätzlich frei ihre Träume zu leben, aber dennoch bestand sie nicht so unnachgiebig darauf wie Leo. Sie war bereit Kompromisse einzugehen und im Zweifelsfall zum Wohle ihrer Familie zurückzustecken.
Das war etwas, was Leo überhaupt nicht konnte, denn in diesem Punkt verhielt er sich oftmals wie ein bockiges Kind. Und in solchen Momenten fiel es Christiane dann wirklich schwer in diesem großen Jungen den ernstzunehmenden Mann zu sehen.
Wenn man es aus diesem Blickwinkel betrachtete, drängte sich der Eindruck auf, dass Leo recht egoistisch seinen eigenen Lebenstraum lebte, seine eigene Lebensphilosophie. Und für seine Mitmenschen gab es deshalb eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder man mochte ihn trotzdem oder man mochte ihn halt nicht.
Viele schätzten ihn wegen seiner Zuverlässigkeit und seiner Hilfsbereitschaft, andere waren dagegen genervt von seiner lauten und überschwänglichen Art. Und wenn Leo gereizt war und seiner Wut verbal und mit entsprechender Mimik Ausdruck verlieh, wirkte er auf manchen Gegner sogar furchteinflößend und gefährlich.
Bevor Christiane in Leos Leben getreten war, war es gelegentlich vorgekommen, dass aus verbaler Aggressivität auch schon mal eine Handgreiflichkeit geworden war. Nein, Leo war kein Kind von Traurigkeit gewesen! Aber das erfuhr sie eher durch Zufall nachdem sie schon eine ganze Weile – ohne dass es irgendwelche Zwischenfälle gegeben hatte - mit Leo zusammen gewesen war.
Gebessert hatte sich Leos Verhalten wohl in dem Augenblick, als er sich in die ruhige Christiane verliebt hatte, die in vielerlei Hinsicht scheinbar einen ausgesprochen besänftigenden Einfluss auf ihn ausübte.
Umgekehrt hatte Christiane von Leo gelernt offen zu sagen, was ihr gegen den Strich ging und schlagfertig zu kontern, wenn ihr jemand einen dummen Spruch an den Kopf warf. Ein wenig färbte Leos Art also genauso auf sie ab wie ihre Art auf ihn.
Es war deshalb nicht von der Hand zu weisen, dass Christianes Beziehung zu Leo grundsätzlich auch einen positiven Einfluss auf sie hatte. Sie wurde selbstbewusster, blühte in jeder Hinsicht auf und entwickelte neue Interessen. Sie entdeckte ein paar neue Seiten an sich, wurde neugierig auf das Leben, die Welt, neue Horizonte.
Da sie wegen Leos Beruf oft alleine war und wegen der Kinder abends in der Regel zu Hause bleiben musste, entdeckte sie ein altes Hobby wieder und las unzählige Bücher zu den unterschiedlichsten Themen. Anfangs waren es eher Liebesromane oder Thriller. Dann fiel ihr durch Zufall ein philosophisches Buch über die Lehre vom Sein in die Hände, welches sie in ihrem Inneren so berührte, dass sie mehr zu diesem Thema wissen wollte.
Von da an las sie fast nur noch Bücher über das Woher, Wohin und Warum. Außerdem schaute sie inspirierende Filme und entdeckte viele interessante Seiten zum Thema Bewusstwerdung und Erfüllung im Internet.
Dabei war es keine abgehobene Esoterik, die sie interessierte, sondern vielmehr die nicht religionsgebundene Spiritualität. Natürlich geschah die Hinwendung zu diesen doch recht speziellen Themen nicht von jetzt auf gleich, sondern entwickelte sich eher im Laufe der Jahre von ganz allein, wobei das Interesse eher immer stärker wurde, als wieder abzuflauen.
Gerne hätte sich Christiane mit jemandem darüber ausgetauscht, aber in einem kleinen Dorf wie ihrem interessierte man sich in seiner Freizeit eher fürs Gärtnern und Nähen, als für Spiritualität jenseits der Kirche…
Leo zog so manches Mal die Augenbrauen hoch, wenn er wieder einmal ein neues Buch entdeckte, mit dessen Titel und Inhalt er so gar nichts anfangen konnte. Und wenn Christiane versuchte ihm etwas dazu zu erzählen, dann war sein einziger Kommentar „Aha“. Er war da doch eher der bodenständige, konservative Typ und bevorzugte der Einfachheit halber die herkömmlichen Glaubenssätze seiner katholischen Erziehung, mit denen er aufgewachsen war. Dennoch respektierte er Christianes „Hobby“ und ließ sie gewähren.
Zu Christianes Bedauern merkte er dabei leider nicht, dass sein deutlich spürbares Desinteresse sie auf eine gewisse Art und Weise verletzte und dass sich langsam in ihrer Beziehung zueinander etwas veränderte.
An einem nicht genau zu bestimmenden Punkt schlich sich bei Christiane das nicht zu leugnende Gefühl ein, dass ihr in ihrer Beziehung zu Leo etwas fehlte: Die Kommunikation auf Augenhöhe, gemeinsame Interessen, das Verständnis für die Bedürfnisse und Empfindungen des anderen.
In gewissen Momenten hatte Christiane sogar das Gefühl seelisch zu verhungern, weil Leo sich mit seinem einfachen Leben und seiner einfachen Denkweise zufriedengab: Die Wochenenden mit der Familie, die Abende mit seinen Fußball- und Kartenfreunden, seine Truckerfreunde und sein heißgeliebter LKW waren scheinbar alles, was er brauchte, um glücklich zu sein.
Nein, Christiane konnte und durfte nicht Leo die Schuld dafür geben. Es war wahrlich nicht Leo, der sich mit der Zeit veränderte! Leo war zufrieden mit seinem Leben so wie es war.
Christiane bemerkte lediglich bei sich selbst diese immer größer werdende innere Unzufriedenheit. Denn Christiane war es die sich veränderte und weiterentwickelte. Und weil das so war, gab es da nun mal – ganz ungewollt und unbeabsichtigt - dieses Ungleichgewicht…
Aber konnte man deshalb ihr die Schuld in die Schuhe schieben, dass ihrer Beziehung zu Leo die Bindung verlorenging und dass sich eine gewisse Distanz zwischen ihnen auftat? Hatte sie nicht auch das Recht der Mensch zu sein, der sie sein wollte und das Leben zu führen, welches sie sich wünschte? Musste sie sich an Leo anpassen, damit ihre Beziehung weiter funktionierte?
Christiane dachte deswegen ein wenig mit Sorge an die Zukunft: Wie sollte das auf Dauer weitergehen? Würde es irgendwann überhaupt keine Gemeinsamkeiten zwischen ihnen mehr geben außer dem Interesse an ihren beiden Kindern Mara und Max...
Zwar war Mara nicht das leibliche Kind von Leo, sondern stammte aus Christianes erster Ehe, aber dennoch behandelte er das Mädchen, als wäre sie seine eigene Tochter.
Mara war gerade drei Jahre alt gewesen, als Christiane sich von ihrem Vater getrennt hatte und das Mädchen hatte sehr schnell Zutrauen gefunden zu dem neuen Mann an der Seite ihrer Mutter. Drei Jahre später wurde der gemeinsame Sohn Max geboren und er war in jeder Hinsicht das genaue Ebenbild seines Vaters, weshalb Leo auch mächtig stolz auf ihn war. Man merkte, dass Leo beide Kinder wirklich liebte.
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