Edgar blieb vor der Fleischtheke stehen, unschlüssig über den Einkauf. Sollte er Schnitzel oder Schweinebraten oder lieber Geflügel nehmen? Sollte er Renate anrufen und nach ihrem Wünschen fragen?
Nach einem Blick auf die Uhr ging Edgar zur Kasse und packte auf dem Weg dorthin lediglich einige Tafeln Schokolade in den vorher leeren Korb. Für Schlesinger, der Junge liebte diese Süßigkeit und konnte nebenbei ein paar Kilos mehr auf den Rippen brauchen. Yvonne fertigte zwei Kunden ab, dann stand Edgar vor ihr. Er warf die Schokoladen auf das Laufband.
„Ist das alles?“, fragte sie unsicher.
Edgar beugte sich vor und gab sich keine Mühe, leise zu sprechen, so dass nachfolgende Kunden ihn hörten. „Warum haben Sie verschwiegen, wo Sie am Samstagabend waren?“
„Oh, die Feier bei Kati? Die habe ich vergessen.“ Sie lächelte ihn vorsichtig an.
„Frau Richter, Sie haben die Frage, wann Sie Ihren Ex-Mann zum letzten Mal lebend gesehen haben, falsch beantwortet. Und jetzt bieten Sie mir so eine lahme Ausrede an! Habe ich vergessen! Es geht hier um eine Mordermittlung!“
Yvonne wurde rot. Die Leute hinter Edgar fingen an, miteinander zu tuscheln. Alle starrten Yvonne an.
Edgar nahm seine Schokoladen betont langsam vom Band und steckte sie ein, nachdem er bezahlt hatte. „In fünf Minuten. Ich warte draußen!“
Sie war pünktlich, trug einen Kittel über einer rosa Strickjacke.
„Nun mal raus mit der Wahrheit“, herrschte er Yvonne an, „was verheimlichen Sie vor uns?“
„Ja, was schon! Ich traf auf James bei Kati. Seinetwegen wollte ich die Party so schnell wie möglich vergessen. Ich bin nur bis zehn geblieben.“
„Sie hatten keine Ahnung, dass Sie Herrn Somura dort begegnen würden?“
„James war nie bei Kati. Sie muss ihn eingeladen haben. Von allein wäre er nicht gekommen. Dazu war er zu feige.“
Edgar stutzte. Katrin hatte behauptet, der Somura wäre unerwartet bei ihr aufgekreuzt. Höchstwahrscheinlich war das ebenso eine Lüge.
Edgars Handy klingelte. Auf dem Display sah er die Nummer seiner Geliebten. Corinna würde warten müssen, er drückte sie weg.
„Kann ich wieder an meine Arbeit?“, fragte Yvonne.
„Warum haben Sie während der Feier bei Frau Sommerfels in der Küche geweint?“
Diesmal brauchte Yvonne länger für eine Antwort. „Sagen Sie nicht, dass Sie das auch vergessen haben“, warnte Edgar sie.
„Wegen Katrin“, sagte sie leise, „sie war gemein zu mir, und ich dachte, sie wäre meine Freundin.“
Edgar fühlte sich bestätigt, dass zwischen den beiden Frauen etwas im Argen lag. „Was genau hat Frau Sommerfels getan?“
„Sie hat mit James geflirtet, und ich habe gehört, wie sie über mich hetzte, über James und mich. Dass unsere Ehe ein Fehler war und ähnlich. War das etwa nett?“
„Sie waren eifersüchtig...“
„Nein! Kati weiß, dass ich James möglichst aus dem Weg gehe. Und prompt lädt sie ihn ein, obwohl beide sich sonst nie sehen. Das war extra meinetwegen, damit ich früh verschwinde“, sagte sie wütend, „hatte sie freie Bahn. Mich hat James nicht die Bohne interessiert!“
„Und warum haben Sie verschwiegen, dass Ihre Mutter Dienstagnacht bei Ihnen war und Ihnen Sina brachte? Sie war gerade bei meinem Kollegen und gab Ihnen ein Alibi. Haben Sie Ihre Mutter darum gebeten?“
„Niemals hätte ich das getan. Warum denn! Ich habe James nicht getötet. Es war alles so aufregend, ich war durcheinander, deshalb.“
„Deshalb…?“
Yvonne fing an zu stottern. „Na eben, wegen dem Mord. Mir wird kalt hier. Kann ich wieder rein?“ Als er nicht antwortete, redete sie weiter: „Ich hatte das mit meiner Mutter vergessen, bei der Befragung. Wenn einem alle auf den Mund starren, irrt man sich eben mal oder vergisst es.“
„Ein bisschen viel Vergesslichkeit in Ihrem Alter. Das soll ich Ihnen glauben?“
„Glauben Sie doch, was Sie wollen! Ist mir egal. James war mir total wurscht. Und jetzt muss ich arbeiten!“
Eine halbe Stunde später traf Edgar auf Schlesinger und den Hauseigentümer. Er war ein schlanker Mann mittleren Alters, mit welligem schwarzen Haar und südländischem Akzent. Der Mann erzählte freimütig, wenn der letzte Mieter ausgezogen sei, werde das Haus von Grund auf vollständig rekonstruiert und saniert. Er hätte keine Eile damit, meinte er. Auf Edgars Frage, wieso er sich diese Warterei leisten könne, lächelte er lediglich hintersinnig und zog belustigt seine Augenbrauen hoch. Und warum das Gebäude bereits eingerüstet sei? Nur für das Dach, das müsse erneuert werden, sonst würde es hineinregnen.
Der Eigentümer zählte auf, wie es um die verbliebenen Mieter stünde und weshalb er von ihrem freiwilligen, baldigen Auszug überzeugt sei. Herr Günther Rotkohl, der alte Mieter im Erdgeschoss, zeige deutlich Anzeichen von Demenz, und über früher oder später lande er in einem Pflegeheim, bevor er eine Gefahr für das Haus und seine Bewohner werden könne. Frau Sonja Leutert, die Mieterin gegenüber von Frau Sommerfels, verbringe regelmäßig die Winterhalbjahre bei ihrem Lebensgefährten auf Mallorca. Sie hätte die Absicht geäußert, ganz zu übersiedeln. Frau Katrin Sommerfels wolle in den Westteil der Stadt, weil sie dort arbeite und der ewigen Fahrerei quer durch Berlin überdrüssig wäre. Frau Regine Herzig, die Mieterin im dritten Stock, zöge, so ihr Mann in Köln festangestellt werde, worüber in den nächsten Tagen entschieden würde, zu ihm an den Rhein. Sie packe bereits ihre Koffer, voller Freude, von hier wegzukommen. Bliebe einzig Herr Heiner Mohr, der sich in seiner Bude leider ausgesprochen wohl fühle. „Er genießt den Charme des Ostens, besonders den der ostdeutschen Frauen“, sagte der Eigentümer grinsend. Dem müsse er wahrscheinlich eine größere Abfindung zahlen, damit er auszöge. „Ein Wessi eben.“
Edgar und Schlesinger fühlten sich nach seiner Ansprache gut über die Mieter informiert. Sie nahmen die Schlüssel entgegen und schickten den Mann weg. Schlesinger begutachtete die leer stehenden Wohnungen, Edgar klingelte bei Heiner Mohr. Niemand öffnete. Den verwirrten Herrn Rotkohl wollte er ebenfalls Schlesinger überlassen, Katrin Sommerfels erneut zu befragen, machte in ihrem momentanen Zustand keinen Sinn, und den Schürhaken aus ihrer Wohnung hatte er schon sichergestellt.
Regine Herzig, die über Katrin wohnte, war Zuhause. Eine kleinere Frau um die fünfzig, mit freundlichem rundlichem Gesicht, lockigem, kurz gehaltenem schwarzen Haar und neugierigen dunklen Augen. Edgar wurde hereingebeten, nachdem er sein Anliegen vorgebracht hatte, mit ihr über Jonathan Somura sprechen zu wollen.
Im Wohnzimmer war es unordentlich, die Fenster weit geöffnet. Gedämpfter Lärm schallte vom Arkonaplatz und umliegenden Straßen herein. Geschäftig räumte Frau Herzig einen mit Büchern belegten Stuhl für den Kommissar frei. Sie sei bereits am Bücheraussortieren, entschuldigte sie das Durcheinander im Zimmer. Es sei eigentlich zu früh dafür, und leider wäre immer noch unsicher, ob ihr Mann übernommen werde. „Ich bin trotzdem optimistisch. So oder so muss ich Bücher reduzieren. Doch statt auszumisten, fange ich an zu blättern und lese mich fest. Wie kann ich Ihnen helfen?“
Frau Herzig wusste von Katrin Sommerfels vom gewaltsamen Tod des James Somura. Edgar stellte seine Fragen zu Katrins Feier am Samstag und erfuhr von Frau Herzig, sie sei vor den anderen Gästen bei Katrin gewesen, um ihr bei den Vorbereitungen zu helfen. „Ich bin früher gegangen. Man soll die Jugend unter sich lassen.“ Zustimmung heischend, sah sie ihn an. Edgar fühlte sich nicht angesprochen, er war zwar 45 Jahre alt, meinte aber, es mit jedem jüngeren Mann aufnehmen zu können.
„Trafen James und Yvonne Richter gemeinsam bei Frau Sommerfels ein?“, fragte er.
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