Edgar fühlte sich bestätigt. Einen rassistischen Hintergrund konnten sie vorerst ausschließen. Blieb nur ein privates Motiv. „Eine Hausdurchsuchung bei der Richter“, schlug er als nächsten Schritt vor.
„Auf welcher Grundlage? Weil sie seine Exfrau ist und in der Tatnacht allein mit Kind zu Hause war? Das ist ein bisschen dürftig.“
Typisch Friedrich. In Edgars Augen war sein Chef, wie immer, ein Zögerer. Sie müssten alle relevanten Berichte der Spurensicherung und der KTU abwarten. Außerdem wäre es wichtig, die Tatwaffe zu finden.
Friedrich wollte sein zweites Gespräch mit Yvonne Richter allein durchführen. Es fand eine Stunde später statt.
Zuerst wiederholte Friedrich einige Fragen und erhielt ähnliche Antworten von ihr. Unvermittelt wechselte der Kommissar das Thema: „War Ihre Mutter einverstanden, dass Sie Herrn Somura heirateten?“
„Ja, war sie.“
„Ihre Mutter heißt Irmtraud Zimmermann. Sie heißen Richter, Ihr Exmann Somura. Wie kommt das?“
„Richter hieß mein erster Ehemann. Ich habe den Namen nach der Scheidung von James wieder angenommen.“
„Warum?“
Yvonne zuckte mit den Schultern. „Ist eben so.“
„Wie ist das Verhältnis zu Ihrer Mutter?“
„Einwandfrei, wir helfen uns gegenseitig. Ich bin ohne Vater aufgewachsen. Er ist vor meiner Geburt gestorben.“
„Sina ist oft bei Ihrer Mutter?“
Yvonne nickte.
„Ihre Mutter arbeitet als Kellnerin?“
„Ja, in meiner Nähe. Sie wohnt auch über der Kneipe. Wir sehen uns fast täglich.“
„Ihre Mutter sah kein Problem darin, dass Sie einen Schwarzen heirateten?“
„Sind Sie Rassist?“
„Ich bin Polizeibeamter. Sie haben doch sicher vor der Eheschließung mit Ihrer Mutter über Ihre Absicht gesprochen, und sie hatte keine Bedenken?“
„Sie sind ein Blödmann! Sie können mich mal! Ich habe James nicht umgebracht. Niemals! Suchen Sie lieber den Mörder!“
„Damit sind wir gerade beschäftigt“, entgegnete Friedrich, „und Ihnen, Frau Richter, rate ich, sich im Ton zu mäßigen. Ich kann sehr ungemütlich werden!“
„Ich will nach Hause! Ich habe es satt! Ich habe ein farbiges Kind, was denken Sie, was ich mir anhören muss!“ Sie fing erneut an zu weinen.
Friedrich verließ den Raum und stellte sich zu Edgar, der hinter der Scheibe des Verhörzimmers der Befragung gefolgt war. „Ich lasse sie gehen“, verkündete der Chefermittler. Das kam für Edgar nicht überraschend, denn sie hatten keine Beweise oder Indizien gegen die Richter.
Beide beobachteten Yvonne, die hemmungslos schluchzte. Edgar versuchte, sich in die Frau hineinzudenken. „Sie hatte seit Jahren keinen Mann mehr“, sinnierte er, „das sind schlechte Karten, Friedrich. Alleinstehende Frau mit Kind ist schon schlecht, aber eine alleinstehende Yvonne Richter mit farbigem Kind…?“
„Tut sie dir etwa leid? Ich denke, du verdächtigst sie.“
„Sie hat die Arschkarte, Friedrich.“
„Allerdings, so ist es.“ Schlesinger gesellte sich zu ihnen. Er freute sich, wie immer, wenn er etwas herausgefunden hatte. „Wusstet ihr, dass sie bereits zum zweiten Mal geschieden ist? Der erste Mann ist ihr davon gelaufen, nach nur einem halben Jahr Ehe. Da wird Frau doch ganz schön sauer auf Männer, oder?“
„Ist längst bekannt, Schlesinger. Denkst du, ich schlafe während der Arbeit!“, schnauzte Friedrich ihn an und rauschte aus dem Raum.
„Er musste unsere einzige mögliche Verdächtige nach Hause schicken, das ärgert ihn“, entschuldigte Edgar Friedrichs Verhalten. Ihm fiel eine neue Aufgabe für seinen jungen Kollegen ein. „Könntest du dich um die Eltern vom Somura kümmern? Sie sollen irgendwo in Afrika leben.“
„Sehr präzise Ortsangabe“, bemerkte Schlesinger. Sein Handy klingelte. Schlesinger lauschte, nickte und sagte ‚ja’, bevor er den Aus-Knopf drückte. „Observation der Richter“, informierte er Edgar, „ich hänge mich gleich an sie dran. Du sollst mich am Abend ablösen.“
Edgar wollte Renate mitteilen, dass es bei ihm spät würde. Weil er sie nicht erreichte, hinterließ er Nachrichten auf dem Anrufbeantworter und ihrem Handy mit der Bitte um Rückruf.
Der Supermarkt, in dem Yvonne Richter arbeitete, lag in unmittelbarer Nähe des Arkonaplatzes. Nach einer halben Stunde war Edgar im Auto eingeschlafen. Als er aufwachte, war es kurz vor 22 Uhr. Edgar musste eine weitere halbe Stunde ausharren, bevor Frau Richter auftauchte. Sie eilte an seinem Auto vorbei, ohne einen Blick hinein zu werfen. Über ihrer rosa Bluse trug sie nun eine dunkelbraune Steppjacke. Sie lief Richtung Arkonaplatz, und Edgar, der ihr mit Abstand folgte, dachte, sie wolle direkt zu ihrer Wohnung in der Brunnenstraße, doch Yvonne blieb vor einem vollständig eingerüsteten Haus in der Ruppiner Straße stehen. Yvonne Richter wollte offensichtlich jemanden besuchen. Einen Komplizen? Den geheimen Freund oder die beste Freundin?
Edgars Handy klingelte. Es war Friedrich, der sich nach dem Stand der Dinge erkundigte. Edgar berichtete, Yvonne Richter würde gerade im Haus Nr. 49, Ruppiner Straße, verschwinden.
Edgar musterte die Fensterfront, zwei Wohnungen waren hell erleuchtet. Mit wem nahm Yvonne Richter Kontakt auf? Es könnte eine Person sein, die Einiges über die verdächtige Ex-Frau und ihre Beziehung zu dem Toten wusste.
Die Haustür der Nummer 49 war abgeschlossen. Edgar entzifferte die wenigen beschrifteten Schilder. Danach schlenderte er um die Häuserecke. Er entdeckte einen Durchgang im Nebenhaus in der Anklamer Straße und gelangte über einen kleinen Hof zur Rückseite der Nummer 49, die ebenfalls eingerüstet war. Es gab einen unverschlossenen Hintereingang. Langsam und so leise wie möglich stieg Edgar die Treppen hoch. Er las die Namensschilder an den Wohnungstüren und lauschte, ob er irgendwo Yvonnes Stimme hörte, fand aber keinen Hinweis, wo sie abgeblieben war.
Enttäuscht ging Edgar wieder in den Hof hinunter. Erneut betrachtete er die hintere Hausfront. Und da sah er sie hinter einem großen einglasigen Fenster, vor dem ein kleiner schmaler Gegenstand herunter baumelte. Ansonsten war das Fenster weder durch Rollo noch durch Gardine verhängt. Die Küche, mutmaßte der Kommissar. Yvonne stand neben einer anderen Frau, sie gestikulierte, und die Unbekannte bewegte sich kaum. Sie war größer als Yvonne, hielt ein Glas in der Hand, den Kopf hatte sie leicht zurückgelehnt, als schaute sie in den Nachthimmel, als wäre sie allein und würde Yvonne ignorieren.
Edgar suchte hinter den Büschen Schutz, die im Hof wuchsen. Zweiter Stock rechts, prägte er sich ein. Eine Stunde später kam Yvonne Richter aus dem Haus heraus. Sie lief zu der kleinen Eckkneipe gegenüber, in der ihre Mutter arbeitete, und blieb dort für zehn Minuten. Danach nahm sie den direkten Weg zu sich nach Hause in der Brunnenstraße. Edgar folgte ihr zu Fuß. Als das Licht in ihrer Wohnung anging, brach er die Observation ab und fuhr nach Hause.
Am Freitagmorgen referierte Schlesinger in der Teambesprechung die Erkenntnisse der KTU und der Spurensicherung. An der Wohnungstür des Jonathan Somura fanden sich keine Spuren, die auf einen Einbruch schließen ließen. Das Opfer hatte seinem späteren Mörder die Tür offensichtlich selbst geöffnet. Mit Hilfe von Yvonne Richter wurde festgestellt, dass seine persönlichen Sachen vollständig waren, Computer, Fotoapparat, Handy oder TV-Gerät waren an ihren Plätzen, auch das Geld lag in der dafür bestimmten Schachtel.
Die Leiche wies keine Abwehrspuren auf; offenbar hatte der Somura sich nicht gegen seinen Angreifer gewehrt. Als Tatwaffe wurde der fehlende Schürhaken aus Somuras Kaminbesteck angenommen. Der damit ausgeführte Schlag traf die Halsschlagader, wahrscheinlich eher zufällig. Der Somura war innerhalb kurzer Zeit verblutet.
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