Ob er, lieber Horatio, etwas Zeit für sie hätte? fragte sie mit erstickter, etwas verschämter Stimme.
„Für dich immer“, sagte er, vielleicht seiner Betroffenheit wegen, unwillkürlich salopp. So aufgewühlt hat er sie noch nicht gesehen. „Was gibt es?“
„Oh, lieber Horatio, ich bin entsetzlich bestürzt!“, sagt sie.
„Wodurch denn, in Gottes Namen?“ In der Not des Augenblicks verfällt er auf die sinnlose Formel.
Es gehe um den Prinzen. Sie sei schon bei ihrem Vater gewesen, der aber half ihr kaum, ihr Herz zu erleichtern. Doch seien sie gemeinsam freund mit Hamlet, vielleicht könne er, Horatio, ihr raten. Und sie berichtet ihm den ganzen Hergang. Sie war gerade mit Nähen beschäftigt – für das sie bei allen hochmögenderen Zielen noch Zeit fand –, allein auf ihrem Zimmer, als plötzlich, ohne anzuklopfen, der Prinz erschien und nah vor sie hintrat. Um nicht zu sagen, sich vor ihr aufpflanzte. Er pflanzte sich nämlich ganz penetrant vor ihr auf. So, wie er war, habe sie ihn noch nie erlebt, so aufgelöst, sein tintenschwarzes Wams weit aufgerissen, ohne etwas auf dem Kopf, die Gamaschen lose, so dass ihm die Strümpfe nachlässig über die Knöchel hingen. Das Antlitz bleich wie sein Hemd, die Knie schlotternd, mit einem Blick so jammervoll, als wäre er geradenwegs aus der Hölle entsprungen, um deren Greuel kundzutun. So stand er vor ihr.
Sie führt ihm den Anblick so anschaulich vor Augen, dass ihm an Freundes Statt die Schamesröte ins Gesicht steigt. Was war das? Er kann es sich nur so erklären, dass der Prinz von der verzweifelten Lage, in die er durch die Erscheinung des Geistes versetzt war – und von der er der jungen Ophelie nichts verraten durfte –, ganz plötzlich überwältigt wurde. Vielleicht wurde ihm erst jetzt wirklich klar, wie ausweglos seine Situation wirklich ist. Und in einem jener Momente verzweifelter Panik, die ihn dann und wann überkam, hatte er sich nicht mehr zu helfen gewusst und Zuflucht bei seiner Geliebten gesucht. Da Ophelia seinem Herzen am nächsten ist, oder sein könnte, floh er direkt zu ihr, um sein Herz zu erleichtern.
Das aber durfte er nicht – „Doch brich mein Herz, denn schweigen muss mein Mund!“, hat Horatio ihn sagen hören –, und so kam es wohl zu einer Art psychischem Stau oder Verhaltung, die ihn außer sich brachte. Zu einem Gefühlsstau, bei dem er, anstatt expressiv aus sich herauszugehen, gleichsam innerlich und seelisch implodierte.
Was er bloß habe? rätselt sie. Was hat sie ihm getan? Ihr Vater habe es seine notorische ,Verrücktheit' genannt und sofort auf die Ursache getippt: „Verrückt aus Liebe zu dir?“, habe er gefragt. Was sollte sie sagen?
Sie könne es sich nicht vorstellen, sagt sie. Ein Kavalier benimmt sich doch nicht so. Sie wisse es nicht! wiederholte sie, sie habe ihm keinerlei Anlass gegeben. Allerdings könne sie, angesichts aller sonst fehlenden Gründe, nicht ausschließen, dass es doch mit ihr zu tun habe.
Ein groteskes Missverständnis! denkt Horatio, da der Mord ja nicht das Geringste mit ihr zu tun hat. Doch kann auch er sie nicht weiter ins Bild setzen, die Sache ist zu gefährlich. Wer weiß auch, welche Auswirkungen des Prinzen Verzweiflung sonst noch auf seine Verliebtheit hat? Gewiss hat durch den grauenhaften Alb, der auf ihm lastet, auch seine Libido einen empfindlichen Dämpfer erlitten.
Ob der Prinz auch etwas sprach? habe der Vater erfragt.
Nicht wirklich, sagte sie. Er habe sie am Handgelenk gefasst und sie festgehalten. Dann lehnte er sich zurück, so weit sein Arm reichte – sie macht es gestisch nach –, und mit der andern Hand so überm Auge – so – sah er ihr prüfend ins Gesicht, so prüfend, als ob er's zeichnen wollte. So stand er lange da.
Warum das? fragt sich Horatio; schließlich ist ja nicht das Mädchen der Mörder.
Zuletzt dann, mit einem kleinen Schütteln ihres Arms, wobei er dreimal seinen Kopf hin und her schaukeltte – so –, gab er einen so tiefen und beklommenen Seufzer von sich, als sollte es seinen ganzen Körper zertrümmern und all sein Dasein enden. Dann ließ er sie endlich los – und so, den Kopf über die Schulter zurückgedreht – so, sie macht es nach –, ging er zurück zur Tür, ganz ohne auf den Weg zu achten. Und ging hinaus, ohne Zuhilfenahme seiner Augen, deren liebes Licht bis zuletzt auf sie gerichtet blieb.
Was war das? Wollte er ihre Treue von der Stirn ablesen? Fürchtet er, die gleiche Enttäuschung wie bei seiner Mutter könnte ihn auch mit ihr passieren? Das arme Kind. Was soll sie davon halten?
Lieber wäre es ihr, er wäre ihr zu nahe getreten, sagt sie, als ihn in dieser Verstörtheit zu sehen. Das sage sie aber nur ihm.
Das ist ihr gutes Herz. Sie liebt ihn wirklich. Dennoch muss sie der Vorfall ziemlich mitgenommen haben, wenn sie sich zu so einer Bemerkung hinreißen lässt, wie er sie von ihr nicht gewärtigt hätte. Sie ist fürchterlich vor den Kopf gestoßen.
Was soll er sagen? Es ist demütigend, das Mädchen, an dessen Aufklärung ihm am meisten liegt, gerade in diesem Moment im Stich lassen und zum Verräter an ihrer Intelligenz werden zu müssen. Verständlich, dass sie über Hamlets Benehmen außer sich ist. Hat er vielleicht „psychische Zustände“? fragt sie mit einem Wort, das er schon einmal irgendwo gehört hat.
Henri kennt das, und denkt an Inga. Das ist der Punkt, wo ein Mann seine Frau verliert. Wenn ihr jetzt ein anderer auf anständige Weise den Hof macht, könnte sie ihm leicht abtrünnig werden. Aber noch würde es keiner am Hofe wagen.
Sie ist hinreißend schön in ihrer Verzweiflung und sehr verführerisch. Er wird sich bewusst, wie seine Hand, um sie zu trösten, unwillkürlich nach ihrer Schulter, das schmale Vorgebirge ihrer zärtlichen Gestalt, zuckt, und hält sie im letzten Moment zurück.
Er stellt sich den Freund vor, dessen schwer belastetes Gemüt auch bei der Geliebten keine Erleichterung findet. Aber ist das nötig? Ist er nicht Manns genug, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen? Genügt nicht seine, Horatio's, Freundschaft, um diesen Albtraum zu teilen? Muss er auch noch das unschuldige Mädchen mit in den Fall hineinziehen?
War es eine Übersprungshandlung, bei der er seine Enttäuschung durch seiner Mutter Treuebruch mir nichts dir nichts auf seine Geliebte übertrug? Hat es sein Frauenbild überhaupt affiziert?
Zog die Enttäuschung durch Gertrud – „Schwachheit, dein Nam' ist Weib!“, hat er ihn sagen hören – sein Frauenbild so generell herab, dass sie seine eigene Liebe zerstörte? Horatio versteht ihn nicht. Was hat das mit Ophelien zu tun? Scheint deren Tugend doch gerade so, wie der Geist auf der Terrasse sie idealiter geschildert hat: die sich nicht reizen lässt, und buhlte Unzucht auch in himmlischer Gestalt um sie !
Warum das ganze Geschlecht verdammen, wo es nur um die Schwachheiten einer darbenden Witwe ging? Ist er so verletzt, dass er alle Objektivität verliert und nicht mehr zwischen einer und der andern unterscheidet? Schlägt er den Sack, wo er den Esel meint? Ist ihre beider Freundin Opfer eines moralischen Kollateralschadens? – Das ist nicht erlaubt, denkt er und nimmt sich vor, ihm, auch wenn das sonst nicht seine Art ist, bei passender Gelegenheit deswegen ins Gewissen zu reden.
Vermutlich quält ihn etwas, was sie nicht wissen und er ihnen nicht sagen will? mutmaßt Horatio zum Schein. Vielleicht sei es seines Vaters plötzlicher Tod sowie die kurz darauf folgende Wiederverheiratung seine Mutter, was ihn so verstöre? – Soviel darf er andeuten, mehr darf er ihr momentan nicht verraten. Wie denn ihr Vater auf die Geschichte reagierte? will er wissen, als ob das eine Lösung brächte.
Er habe sie gleich zum König bringen und ihm alles berichten wollen, sagt sie. Dies sei seiner Meinung nach die echte Schwärmerei der Liebe, deren hektische Natur sich selbst zerstört und zu solchen verzweifelten Szenen führt wie irgendeine Leidenschaft unter dem Mond. Der König müsse es spätestens jetzt erfahren, meinte er, hätten sie Hamlets Zärtlichkeiten bis dato auch vor ihm geheim gehalten. Es weiter zu vertuschen, brächte mehr Unglück als Unannehmlichkeiten, es offenzulegen. Ob sie Hamlet letzthin ein hartes Wort gegeben habe, das ihn so verstörte?
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