Ach! das sei der Fluch schwacher Menschen, dass sie jedesmal, wenn ihnen eine große Unbill widerfährt, zunächst an dem Besten und Liebsten, was sie besitzen, ihren Unmut auslassen. Und so zerstörte der arme Hamlet zunächst seine Vernunft, das herrliche Kleinod, stürzte sich durch verstellte Geistesverwirrung in den entsetzlichen Abgrund der wirklichen Tollheit und quälte sein armes Mädchen mit höhnischen Stachelreden … Das arme Ding! das fehlte noch, dass der Geliebte ihren Vater für eine Ratte hielt und ihn totstach … Da musste sie ebenfalls von Sinnen kommen! Aber ihr Wahnsinn sei nicht so schwarz und brütend düster wie der Hamletische, sondern er gaukle gleichsam besänftigend mit süßen Liedern um ihr krankes Haupt … Ihre sanfte Stimme schmilzt ganz in Gesang, und Blumen und wieder Blumen winden sich durch all ihr Denken. Sie singt und flicht Kränze und schmückt damit ihre Stirn und lächelt mit ihrem strahlenden Lächeln, armes Kind! …
Doch was erzähle er uns diese kummervolle Geschichte? Wir alle kennen sie von frühester Jugend und haben oft genug geweint über die alte Tragödie von Hamlet dem Dänen, welcher die arme Ophelia liebte, weit mehr liebte, als tausend Brüder mit ihrer Gesamtliebe sie zu lieben vermochten, und welcher verrückt wurde, weil ihm der Geist seines Vaters erschien, und weil die Welt aus ihren Angeln gerissen war und er sich zu schwach fühlte, um sie wieder einzurenken, und weil er im deutschen Wittenberg vor lauter Denken das Handeln verlernt hatte, und weil ihm die Wahl stand, entweder wahnsinnig zu werden oder eine rasche Tat zu begehen, und weil er als Mensch überhaupt große Anlagen zur Tollheit in sich trug. – Wir kennten diesen Hamlet, wie wir unser eignes Gesicht kennen, das wir so oft im Spiegel erblicken, und das uns dennoch weniger bekannt ist, als man glauben sollte; denn begegnete uns jemand auf der Straße, der ganz so aussähe wie wir selber, so würden wir das befremdlich wohlbekannte Antlitz nur instinktmäßig und mit geheimem Schreck anglotzen, ohne jedoch zu merken, dass es unsere eignen Gesichtszüge sind, die wir eben erblickten.
Hamlets nächster Freund ist Horatio der Däne. Shakespeare bildete ihn, wie aus der Rede Hamlets hervorgeht, nach dem Vorbild des römischen Stoikers Horaz:
Seit meine teure Seele Herrin war
Von ihrer Wahl und Menschen unterschied,
Hat sie dich auserkoren. Denn du warst
Als littst du nichts, indem du alles littest;
Ein Mann, der Stöß' und Gaben vom Geschick
Mit gleichem Dank genommen: und gesegnet,
Wes Blut und Urteil sich so gut vermischt,
Dass er zur Pfeife nicht Fortunen dient,
Den Ton zu spielen, den ihr Finger greift.
Gebt mir den Mann, den seine Leidenschaft
Nicht macht zum Sklaven, und ich will ihn hegen
Im Herzensgrund, ja in des Herzens Herzen,
Wie ich dich hege ...
Ja, das ist das Wesen Horatios, wie man es besser nicht beschreiben kann. Ein solcher Mann ist er, Heinrich Heine, nicht, und eben dieser Gegensatz zieht ihn an. Er fühlt sich öfter, als ihm lieb ist, wie die Pfeife in Fortunas Fingern, den Ton zu spielen, den ihr Finger greift. Er ist oft genug der Sklave seiner Leidenschaft – und seine eigentliche Leidenschaft ist der Eros, der übers Ziel hinaus schießt: seine leichte Entflammbarkeit, seine Anfälligkeit für spontane Verliebtheit. Warum denn hatte ich nicht Vernunft genug, die Leidenschaft zu besiegen? Weil die Leidenschaft stärker war als die Vernunft! Ich war darin nicht frei; ich bin es ja nicht, der mir Leidenschaft und Vernunft gegeben hat. Von Kind an liegt das in mir, in Leib und Seele, ebenso wie die Gabe der Poesie .
Ein solcher Mann tritt der Liebe nicht mit jener Gelassenheit entgegen, wie die Medea des Euripides sie fordert:
Wo heftige Liebe den Mann
Zu sehr bedrängt, da kann sie nicht
Würde verleihen noch Ruhm. Doch wann immer machtvoll einherkommt
Kypris, nicht ein anderer Gott ist so lieblich.
Sende, Herrin, mir von dem goldenen Bogen nie den sichern
Pfeil, den du gesalbt mit süßer Sehnsucht!
Er, Heinrich Heine, hingegen ist die Marionette am Draht seiner Leidenschaft, und seine Leidenschaft ist die Liebesleidenschaft. Er weiß auch genau, woher diese Liebessucht kommt: Es ist das limbische System in seinem Gehirn, in dem die Lust lokalisiert ist. Dieses Organ ist fast unabhängig von der Person, es führt ein Eigenleben und funktioniert autonom, und hält ihn am Draht wie eine Marionette. Es ist sein heißes Blut , das die Dämme seines Urteils – seiner Vernunft – überschwemmt, und er ist schier machtlos dagegen.
Sein Blut und Urteil sind nicht so gut gemischt wie Horatio's, in ihm überschwemmt und ertränkt das Blut das Urteil, und das ,Blut' ist seine exorbitante, überbordende Sinnlichkeit. Sie ist sein innerstes Wesen. Sie ist ihm von Mutter Natur in die Wiege gelegt. Es ist jene Anfälligkeit für die Pocken des Herzens, die er schon in frühester Jugend zu spüren bekam. Und niemals, nie würde er diesen Bazillus herausbekommen aus seinem Blut.
Ein Mann wie Horatio dagegen ist leicht zu loben und zu lieben, er kennt nicht das ständige Kribbeln im Ameisenhaufen der Sinnlichkeit. Zu sein wie er! Um sich nur einmal in effigie mit ihm zu identifizieren, plant er einen Roman über ihn.
Horatio hält so eng mit Hamlet und Ophelia zusammen, dass man es fast für eine Ménage-à-trois halten könnte. Der alte Polonius, der eine Kammerzofe der Königin geheiratet hat, bekam sie, nach ihrem Bruder Laertes, als zweites Kind, als er schon merklich über die fünfzig war. Sie ist mit ihren siebzehn von hinreißendem Liebreiz. Sie hat hohe Backenknochen, lustige Augen und einen regelmäßigen Mund mit vollen Lippen, dazu das gleiche strahlend blonde Haar wie ihre Mutter, das ihr über den Rücken herab bis auf die Hüften reicht, und auch die gleiche schlacksige Figur. Die Hüften trägt sie so hoch auf den langen Beinen, dass sie wie ein junges Füllen wirkt. Sie hat den sommersprossigen Teint aller Blonden und wird nicht leicht braun, weswegen im Sommer, wenn sie leichgeschürzt geht, ihre Arme und Schenkel weiß wie Schnee in der Sonne gleißen. Horatio hat oft bemerkt, wie die jungen Kavaliere am Hof dann wie geblendet schwache Knie kriegen und in den weißen Schnee sinken wollen. Doch hält sie schon der Respekt vor dem Prinzen in Schach.
Ophelia scheint nicht nur von unberührbarer Sittsamkeit, sie ist es auch. Horatio, mit dem Henri jetzt sich identifiziert, weiß nicht, was sie unter ihrer Bettdecke treibt, wenn sie mit sich allein ist, und hat manchmal Mühe, den Gedanken daran zu verdrängen; sonst ist es nicht seine Art, sich die Schlafzimmerszenen seiner Freunde vorzustellen. Aber wäre nicht Isolde, seine Wittenberger Verlobte, und wäre nicht Hamlet, sein prinzlicher Freund, er wüsste nicht … – doch das sind der Wenn und Aber schon zu viele, als dass er weiter darüber nachgrübeln wollte.
Dabei weiß er nicht, ob er auf sie auch so wirkt wie auf manche ihrer Geschlechtsgenossinnen auf dem Schloss, deren Nachstellungen er sich immer wieder entziehen muss. Vielleicht ist sie einfach noch zu unschuldig. Gelegentlich hat er sie sagen hören, dass sie sich ein normales Leben mit ungefähr zwei Kindern wünscht. Natürlich ist ihr aufgefallen, wie peinlich er die Nachstellungen der einen oder anderen Hofdame flieht, die sich mit seiner offiziellen Vergebenheit nicht abfindet. Manch eine, die es genau wissen will, kommt nachts an seine Zimmertür; doch merkt er schon an dem verschämten Klopfen, dass es eine Frau ist, und tut dann so, als wäre er nicht da oder schliefe schon. Sogar die Königin Gertrud äußerte hinter vorgehaltener Hand ihr Bedauern, dass sie ihm nicht die eine oder andere ihrer Favoritinnen zuschanzen kann. Es sind die reizendsten Geschöpfe von der Welt, aber was soll ihm das, wenn zu Hause Isolde sehnsüchtig seiner harrt? Es liegt wie ein beständiger unanständiger Kitzel in der Luft. Ophelia aber merkt es nicht oder tut so, als würde sie es nicht merken.
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